Toxische Positivität auf Social Media: Ein kritischer Blick auf die „Good Vibes Only“-Bubble
Toxische Positivität – einer der Gründe, warum ich vor gut einem Jahr meinen Instagram-Account gelöscht habe.
Was dieser Begriff genau meint, welche Rolle soziale Medien bei der toxischen Positivität spielen und warum ich es so wichtig für Selbstständige finde, aus der „Good Vibes only“-Bubble auszusteigen, erzähle ich in diesem Artikel.
Inhalt
Was ist toxische Positivität? Eine Definition
Beispiele für toxische Positivität
Warum ist toxische Positivität so problematisch für Selbstständige?
All feelings welcome – Warum wir auch die unangenehmen Gefühle in der Selbstständigkeit brauchen
Was ist toxische Positivität? Eine Definition
Toxische Positivität meint eine Form von übertriebenem Optimismus und einen so starken Fokus auf das Positive, dass es zum Negieren, Ignorieren oder Verdrängen von bestimmten „unbequemen“ Gefühlen wie Wut, Traurigkeit, Enttäuschung oder Angst kommt.
In jeder Situation wird versucht, „positiv zu denken“. Und wenn andere Menschen traurig oder enttäuscht sind, wird ihnen gerne mal ein „Sieh es doch mal positiv“ oder „Don’t worry, be happy“ entgegengebracht.
Beispiele für toxische Positivität
Soweit die Theorie. Lass uns das Ganze jetzt mal an einigen konkreten Beispielen durchspielen, die den meisten Selbstständigen bekannt vorkommen dürften.
Toxische Positivität in der Offlinewelt
Zunächst einmal ist toxische Positivität nicht für die Onlinewelt reserviert. Wir finden sie auch im „wirklichen Leben“:
Wenn ein langjähriger Kunde gekündigt hat, wir enttäuscht sind und unsere Freundin sagt: „Kopf hoch! Das wird schon wieder …“
Wenn wir ein Ziel haben, es nicht erreichen, traurig sind und der Partner sagt: „Ist doch nicht so schlimm. Du machst doch trotzdem alles super …“
Wenn uns die Reaktion einer Kundin wütend macht und wir von der Mutter gesagt bekommen: „Du musst das Ganze positiv sehen …“
Alles toxische Positivität.
Diese Worte mögen zwar nett gemeint oder sogar als liebevoller Trost gedacht sein, aber in erster Linie negieren oder ignorieren sie die Gefühle, die wir in diesem Augenblick fühlen.
Enttäuschung, Traurigkeit, Wut.
Alles normale Gefühle, die zur normalen Bandbreite der menschlichen Empfindungen gehören und per se nicht schlechter sind als Freude, Neugier oder Glück.
Nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Selbstständigkeit.
Toxische Positivität in sozialen Medien
Social Media hat toxische Positivität also nicht erfunden, treibt das Phänomen aber nochmal ins Extreme. Denn je nach Plattform und Bubble kann es sein, dass wir uns in einer Welt wiederfinden, in der alle ausschließlich immer nur gute Laune haben.
Sie machen einen total romantischen Herbstspaziergang.
Haben die besten und treuesten Kundinnen.
Haben ihre Jahresumsätze verhundertdreißigfacht.
Machen die siebte Workation in Island dieses Jahr.
Sind dreiundzwanzig Monate im Voraus ausgebucht.
Haben sich fünfzehn neue Kund*innen manifestiert.
Dazwischen gibt es Motivations- und Inspirationszitate am Fließband:
Good vibes only.
Bad vibes don’t go with my outfit.
Radiate positivity.
She just shines.
Things are gonna totally work out.
Don’t forget to smile.
Good Vibes Only – ein häufiges Motto auf Social Media
Warum ist toxische Positivität so problematisch für Selbstständige?
Abgesehen davon, dass natürlich niemandem jeden Tag die Sonne aus dem Popo scheint und manche Dinge auch mal nicht funktionieren werden, sind für mich insbesondere drei Punkte an toxischer Positivität ein Problem:
#1 Fehler, Probleme, Herausforderungen und damit verbundene Gefühle wie Enttäuschung, Frust und Traurigkeit sind in den sozialen Medien chronisch unterrepräsentiert
Hier werden Erfolge gefeiert und siebenstellige Jahresumsätze manifestiert, doch nur selten redet jemand über Absagen, Geldnot, Herausforderungen, Fehler oder Misserfolge und damit verbundenen Gefühle.
Die Unterrepräsentation von diesen Herausforderungen und „unangenehmen“ Gefühlen ist auf der einen Seite natürlich verständlich. Kaum jemand möchte sich vor allen Leuten verletzlich machen, kaum jemand möchte zugeben, dass er oder sie auch mal struggelt.
Das Bild, das andere Menschen von uns haben sollen, soll ein positives sein. Vor allem, wenn wir als Selbstständige darauf angewiesen sind, dass Menschen uns gut finden und mit uns zusammenarbeiten wollen.
Das erklärt, warum viele Selbstständige nur dann ihre Struggles teilen, wenn sie ein entsprechendes „Learning“ vorweisen können. („Ich hab einen Fehler gemacht und dann – Heureka! – habe ich etwas Entscheidendes gelernt und bin jetzt noch erfolgreicher als jemals zuvor.“)
Auf der anderen Seite ist diese Unterrepräsentation zutiefst problematisch. Denn dadurch denken viele Selbstständige, dass …
alle wissen, wie der Hase läuft, nur sie nicht
alle mit Erfolg gesegnet sind, nur sie diejenigen sind, die Geldsorgen und zu wenige Kund*innen haben
oder kurz: dass alle anderen „normal“ sind, dass aber mit ihnen etwas nicht stimmt, weil ihre Pläne nicht immer funktionieren und sie auch mal schwierige(re) Zeiten durchleben
Toxische Positivität isoliert also (= alle anderen sind normal und richtig, ich bin unnormal, falsch und gehöre nicht dazu). Und Isolation kann auf Dauer eine immense Herausforderung für die mentale Gesundheit werden.
#2 Toxische Positivität verändert unser eigenes Verhalten auf Social Media
Wenn alle immer gut gelaunt sind, dann tun wir halt auch so, als wäre bei uns alles in Butter.
Denn wir wollen natürlich dazu gehören zum Social-Media-Club.
Bloß nicht negativ auffallen, uns nicht „blamieren“.
Bloß nicht zugeben, dass ein Auftrag überraschend geplatzt ist, eine Kundin plötzlich gekündigt hat, dass wir in der Anfangszeit der Selbstständigkeit keine Kunden finden und deshalb traurig, enttäuscht oder frustriert sind.
Wir passen uns der heilen Instagram-Welt an und erzählen auch überwiegend von den guten Tagen, unseren kleinen und großen Erfolgen und den erreichten Zielen.
Und ehe wir uns versehen, leisten wir auch unseren Beitrag dazu, dass die Maschinerie „toxische Positivität“ in Gang bleibt.
Ein teuflischer Kreislauf.
#3 Wir fühlen uns schlecht, weil wir uns schlecht fühlen
Die Unterrepräsentation von Herausforderungen und bestimmten Gefühlen auf Social Media führt nicht nur dazu, dass wir diese Gefühle selbst nicht mehr öffentlich zeigen. Sie führt auch dazu, dass wir denken, dass Herausforderungen in der Selbstständigkeit und die damit verbundenen Gefühle nicht in Ordnung sind.
Dass Enttäuschung, Frust, Trauer oder Wut nicht in Ordnung sind, weil wir sie online nicht mehr sehen. Vielleicht bei irgendwelchen Trolls und Spammern, aber nicht bei unseren Kolleg*innen oder Kund*innen.
Schließlich sehen wir ja nur ihre guten Tage und größten Erfolge.
Und wenn uns dann ein Kunde absagt, fühlen wir uns nicht nur schlecht, weil der Kunde abgesagt hat. Wir fühlen uns nun auch schlecht, weil wir uns schlecht fühlen.
Und wenn wir noch nicht fünf- und sechsstellige Monatsumsätze haben, weil wir uns gerade erst selbstständig gemacht haben, fühlen wir uns nicht nur frustriert, weil zu viel Monat für den Kontostand übrig ist. Wir fühlen uns auch schlecht, weil wir frustriert sind und mal keine „Good vibes“ versprühen.
„Moment einmal“, denkst du dir jetzt vielleicht, „was spricht denn überhaupt gegen positives Denken oder Optimismus?“
Nichts spricht dagegen.
Zumindest, wenn du unter „positivem Denken“ oder „Optimismus“ eine zuversichtliche und lebensbejahende Grundhaltung verstehst. Die habe ich ja auch.
Toxische Positivität ist aber mehr als das.
Es ist ein „Positiv um jeden Preis“.
Es ist das Negieren, Ignorieren, Verdrängen oder Abstreiten von bestimmten Emotionen.
Es ist ein so starker Fokus auf das Positive, dass kein authentisches Empfinden, kein authentischer Ausdruck mehr möglich ist.
Toxische Positivität zu kritisieren, heißt also nicht, Pessimistin zu sein oder sich „in Selbstmitleid zu suhlen“. Es heißt einfach nur, für einen authentischen Ausdruck als Mensch einzustehen – mit allen Gefühlen, die dazu gehören.
Es heißt, Probleme, Herausforderungen und Fehler anzunehmen – und nicht totzuschweigen.
Es heißt, es sich erlauben, alle Gefühle auszudrücken und zu fühlen – und sie nicht etwa mit Social Media zu betäuben.
All feelings welcome – Warum wir (auch) die unangenehmen Gefühle in unserer Selbstständigkeit brauchen
Denn wir brauchen alle Gefühle als Selbstständige.
Nicht nur Freude und Glück und Begeisterung. Sondern auch Wut, Enttäuschung, Frust oder Traurigkeit.
Ja, Sie mögen unangenehme Gefühle sein, aber sie sind gleichzeitig auch so unendlich wertvoll. Warum? Darum:
#1 Weil unangenehme Gefühle unerfüllte Bedürfnisse zeigen
Warum ist mir das so wichtig? Was ist mir überhaupt wichtig? Warum habe ich überhaupt so reagiert?
Gefühle sind eine großartige Möglichkeit, mehr über uns und unsere Bedürfnisse zu erfahren.
So ist in der gewaltfreien Kommunikation Wut nichts anderes als ein Warnblinker, der anzeigt, dass irgendein elementares Bedürfnis zu kurz kommt. Ein Hilfeschrei des Körpers quasi.
So wie in einem Auto der Motor kaputt gehen kann, wenn wir wichtige Warnungen ignorieren, können auch wir richtig krank werden, wenn wir bestimmte Gefühle und damit unerfüllte Bedürfnisse (zu lange) verdrängen.
Oder anders formuliert: Wir brauchen Frust, Ärger, Trauer und Wut, um unseren unerfüllten Bedürfnissen auf die Spur zu kommen und mental und körperlich gesund zu bleiben.
#2 Weil unangenehme Gefühle große Transformation bewirken können
Alle großen beruflichen Veränderungen in den letzten Jahren wurden bei mir durch unangenehme Gefühle in Gang gesetzt.
Als ich wütend war, dass ein Kunde – und ich tippe diese Zeilen gerade mit dem Mittelfinger – immer wieder die Zeche prellte, wusste ich, dass ich meine Beratungen ab sofort nur noch per Vorkasse anbieten wollte.
Als ich im Sommer 2020 so erschöpft war, dass ich noch nicht mal mehr meine Gedanken hören konnte, wusste ich, dass es Zeit war, mich von Social Media zu verabschieden und meine Social-Media-Kanäle zu löschen.
Wut. Frust. Erschöpfung – alles normale Gefühle und eine riesige Chance für tiefgreifende Veränderung und echtes Wachstum.
#3 Weil unangenehme Gefühle tiefe Verbindungen zu Menschen schaffen
Manchmal struggelt eine Teilnehmerin in einem meiner Programme so sehr, dass sie vor allen anderen weint, während sie von ihrer Herausforderung erzählt.
Auch wenn es sich auf den ersten Blick seltsam anhören mag, aber diese Momente gehören zu den wertvollsten Erfahrungen, die ich der Zusammenarbeit mit anderen Menschen erleben darf. Denn wenn Teilnehmerinnen merken, dass sich jemand öffnet – wirklich öffnet und Gefühle zeigt – passiert eine Magie, die sich kaum in Worte fassen lässt.
Es entsteht eine Verbindung zwischen den Teilnehmerinnen, die nicht möglich wäre, wenn alle so tun würden, als wäre alles in Butter. Diese Verbindung ist unsichtbar und dennoch fast greifbar. Und sie zeigt sich nicht zuletzt in der Empathie und dem Verständnis, das der Teilnehmerin von allen Seiten entgegengebracht wird.
#4 Weil überstandene Krisen Resilienz ausbilden
Das Schöne an Trauer, Frust und Enttäuschungen ist: dass sie uns stärker machen.
Wenn wir diese Gefühle verarbeiten, indem wir sie nicht verdrängen, ignorieren oder betäuben, sondern …
sie annehmen
ihnen Zeit und Raum geben
sie fühlen („Was spüre ich wo im Körper?“)
sie benennen und kategorisieren („Ich fühle mich traurig, weil …“)
neugierig sind und versuchen, sie zu verstehen („Warum fühle ich mich so? Welches unerfüllte Bedürfnis steckt dahinter?“)
… können wir als Selbstständige Resilienz ausbilden.
Und selbst wenn wir niemals zu 100% sagen können, dass schon „alles gut wird“, wissen wir damit doch, dass wir klarkommen – egal, was passiert.