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Hier dreht sich alles um wertebasiertes Marketing ohne Social Media, Psychotricks und das übliche Marketing-Blabla.
Fünf Narrative, die wir nicht mehr im Marketing verwenden sollten
Viele der etablierten Narrative im Onlinemarketing und auf Social Media sind extrem problematisch. Sie sähen Selbstzweifel und treiben Frauen in die Selbstoptimierung und Erschöpfung. Ein Überblick.
Ob in unserem Newsletter, im Blog, auf Social Media oder auf der Website – wenn wir über uns, unsere Produkte und Menschen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, reden, verwenden wir Narrative.
Ein Narrativ ist eine etablierte Erzählung, die für eine Gruppe von Menschen eine sinnstiftende Funktion erfüllt.
Viele der Narrative im Marketing sind sogar so etabliert, gelten als so „normal“ und „selbstverständlich“, dass wir sie gar nicht mehr hinterfragen.
Doch leider sind gerade die etablierten Narrative oft problematisch. Warum? Das möchte ich im Folgenden genauer unter die Lupe nehmen.
#1 Das Umsatz-Narrativ
„Ich habe ein siebenstelliges Business aufgebaut – und du kannst es auch“
„Meine Kundin hat einen sechsstelligen Launch hingelegt – mit meinem Programm“
„Wie ich jeden Monat 10k Euro durch passives Einkommen bekomme“
Kennst du dieses Umsatz-Narrativ auch?
Meine Beobachtung ist, dass es eine der beliebtesten Erzählungen ist, der sich Businesscoaches im Marketing bedienen. Kein Wunder: Es macht natürlich mächtig Eindruck, von solchen Erfolgsgeschichten zu hören, und löst bei uns Normalsterblichen sofort ein „Haben wollen“-Gefühl aus.
Als ich Ende 2015 meine Fühler in Richtung Selbstständigkeit ausstreckte, teilten Menschen noch ihre fünfstelligen Launches, später waren es sechsstellige, dann siebenstellige und inzwischen wundere ich mich noch nicht einmal mehr, wenn ich irgendwo lese: „Ich mache mit meinem Business 10 Millionen und mehr.“
Doch ein sechs-, sieben- oder achtstelliger Jahresumsatz – das ist für die meisten Selbstständigen einfach nicht realistisch. Da können wir noch so viel „manifestieren“ oder an unserem „Mindset“ arbeiten.
Warum bedienen sich Businesscoaches dann dieser Erzählung?
Weil die Zahlen als ein Argument für ihre Programme fungieren sollen.
Die Geschichte lautet ja nicht „Ich habe ein siebenstelliges Business aufgebaut – und es war nur Zufall“ oder „Diese Frau hat einen sechsstelligen Launch hingelegt – mit dem Programm einer Kollegin“, sondern wird immer in den Launch der eigenen Programme eingebettet.
Jeden Monat 10k Euro – und ich bringe dir die exakte Methode bei.
Sechsstellig im Launch – und hier ist mein Onlinekurs, in dem du es lernst.
Siebenstelliges Business – meine Mastermind bringt dich auf den Weg dahin.
Das Umsatz-Narrativ ist aus meiner Sicht einer der fiesesten Psychotricks, die wir im Marketing verwenden können.
Es trifft Menschen an einem wunden Punkt. (Geld ist für viele Menschen scham- oder schuldbehaftet.)
Es erzeugt Neid, Druck und Vergleicheritis.
Es bringt Menschen dazu, eine extrem kapitalistische Haltung in Bezug auf ihre Selbstständigkeit einzunehmen und Menschen, Marketing oder ihre Ziele nur noch danach zu bewerten, ob und wenn ja, wie viel Umsatz sie bedeuten.
Es kann dazu führen, dass Menschen ihre Gesundheit oder ihre Beziehungen riskieren, nur um einem komplett unrealistischen Umsatzziel hinterherzujagen.
Eng damit verknüpft ist ein weiteres Narrativ:
#2 Das Investitions-Narrativ
Kennst du das „Du musst in dich / dein Business investieren“-Narrativ?
Zunächst einmal ist es ziemlich trivial:
Natürlich haben wir als Selbstständige Betriebsausgaben und natürlich können wir eine professionelle Website, ein schickes Logo oder ein Businesscoaching als Investment sehen.
Denn oft ist es ja so: Wenn wir etwas Geld in die Hand nehmen, fühlen wir uns „verpflichtet“, das Projekt dann auch durchzuziehen. Und oft kommen wir dadurch schneller zum Ziel (keine Prokrastination mehr) oder erzielen sogar bessere Ergebnisse (eben weil wir uns fokussieren).
Das Problem an dem „Du musst in dich investieren“-Narrativ sehe ich vor allem dann, wenn damit extrem hochpreisige Angebote gerechtfertigt werden.
Ja, mein Programm kostet 100k – doch wenn du danach siebenstellig verdienst, hast du das Geld ja schnell wieder drin.
Nicht selten werden Menschen so auch dazu gebracht, einen Kredit aufzunehmen und damit Schulden zu machen.
„Du musst Vertrauen haben. Das Universum wird dich für diesen Vertrauensvorschuss belohnen.“
Ein absoluter Red Flag!
#3 Das Universum-Narrativ
Apropos Universum.
Wir können hier und heute ja zum Glück alles glauben, was wir wollen: an einen Gott, an das fliegende Spaghettimonster oder an den rückläufigen Merkur.
Doch weißt du was? Das alles hat für mich nichts im Marketing verloren.
Was das „Universum“ „denkt“, „macht“ oder „belohnt“, ob es überhaupt existiert oder ob das ganze Gerede von einem „Universum“ ausgemachter Unsinn ist, darf jede*r gerne für sich an einem verregneten Sonntagmorgen kontemplieren.
Doch was nicht geht, ist, Menschen (viel zu viel) Geld abzuknöpfen und es mit etwas, was nun mal nicht bewiesen werden kann, zu begründen.
„Das Universum wird dich dafür belohnen.“
Wenn du so etwas irgendwo hörst, dann lauf!
#4 Das „Du kannst alles schaffen, was du willst“-Narrativ
Dream big. Shoot for the moon. Du kannst alles schaffen, was du willst, wenn du fest daran glaubst (hart genug arbeitest / es dir manifestierst etc.).
Als ich noch auf Instagram war, sah ich diese Botschaften überdurchschnittlich oft.
Auf den ersten Blick sollen diese Botschaften (selbstständige) Frauen bestärken. Sie sollen ihnen Mut machen, mehr zu wollen, sich höhere Ziele zu setzen. Doch auf den zweiten Blick ist auch das „Du kannst alles schaffen, was du willst“ extrem problematisch.
Es negiert und bagatellisiert die Herausforderungen der meisten Frauen, die nun mal leider nicht in einer pinken Insta-Wohlfühlwelt leben, sondern täglich mit diversen Gender Gaps, Diskriminierung oder Krankheiten zurechtkommen müssen.
Es führt nicht selten zur Selbstoptimierung, Selbstausbeutung und – nach ein paar Jahren – zu großer Erschöpfung.
Für mich gehört dieses Narrativ zum Pinkwashing und sollte dringend aus dem Marketing verschwinden.
Eng damit verknüpft ist das folgende Narrativ:
#5 Das „Du bist nicht genug“-Narrativ
Das „Du bist nicht genug“-Narrativ kommt in vielen Farben und Formen und die meisten davon sind eher subtil.
Meist sagt uns ja niemand ins Gesicht, dass wir es nicht drauf haben, vielmehr schwingt diese Annahme oft stillschweigend mit.
Du willst erfolgreich werden? Tja, wenn du so weitermachst wie bisher, wird es eher schwierig. Doch mit meinem Framework kannst du deine Ziele erreichen.
Du fühlst dich angesichts deiner Selbstständigkeit und Kinder überfordert? Tja, kein Wunder bei dem „Zeitmanagement“. Ich bringe dir bei, wie du deine Zeit richtig nutzt!
Die Message ist immer: So, wie du jetzt bist, bist du nicht in Ordnung. So, wie du es jetzt machst, ist es scheiße. Du musst dich ändern. Du musst an dir arbeiten.
Es ist ein perfides Businessmodell: Erst werden systematisch Selbstzweifel gesät und dann wird ein passendes – oft extrem hochpreisiges – Programm angeboten.
Fazit
Die Marketingwelt ist voller problematischer Narrative, die wir dringend überdenken sollten. Fünf davon habe ich dir in diesem Blogartikel genannt:
Das Umsatz-Narrativ
Das Investitions-Narrativ
Das Universum-Narrativ
Das „Du kannst alles schaffen, was du willst“-Narrativ
Das „Du bist nicht genug“-Narrative
Welche Narrative wir stattdessen verwenden können? Wie wäre es mit folgenden Ideen:
Du bist genug.
So, wie du bist, bist du in Ordnung. Du musst dich nicht ständig verbessern, verändern oder weiterbilden.
Dein Wert ist nicht an deine Leistung gekoppelt.
Du darfst deinen Fähigkeit vertrauen.
Businessaufbau braucht Zeit und es wird nicht immer leicht sein.
Ja, diese Narrative lassen sich nicht so gut ausschlachten. Doch was ist, wenn das gar nicht mehr das Ziel von Marketing wäre?
Ein kritischer Blick auf das Female Empowerment auf Social Media
Wie feministisch sind die üblichen „Female Empowerment“-Posts auf Social Media? The answer may (not) surprise you: Bedingt. In diesem Blogartikel geht es um die widersprüchlichen und problematischen Botschaften der Girlbosse auf Instagram und Co.
In knapp einem Monat ist internationaler Weltfrauentag.
Und wie immer wird – neben wichtigen Anliegen, Aktionen, Impulsen und Statistiken – eine Menge gefährlicher Blödsinn im Namen des „Female Empowerment“ verbreitet.
Oft (und insbesondere) von Coaches.
Für mich gehört das zu den Hauptwidersprüchen der hippen Girlboss-Female-Empowerment-Selbstverwirklichungsbubble:
Wir tun so, als wäre uns die Stärkung von Frauen eine Herzensangelegenheit – doch unsere Handlungen sprechen eine andere Sprache.
Hier eine lange Liste von Begriffen, Bildern, Botschaften und Handlungen, die dem Anliegen der Female-Empowerment-Bewegung schaden – und abschließend ein paar Ideen, wie wir es besser machen können.
#1 Die Sprache im Female Empowerment
Alles fängt mit der Sprache an.
Powerfrau
Karrierefrau
Fempreneur
Bosslady
Ladyboss
Working Mum
Mumpreneur
Mompreneur
SHEO
Diese Begriffe mögen nett oder sogar als ein Kompliment gemeint sein, doch sie zeigen ganz deutlich:
Wenn Frauen oder Mütter arbeiten oder sich selbstständig machen, ist das immer noch eine Abweichung von der Norm und sollte extra betont werden. Als wären wir immer noch ganz verwundert darüber, wenn Frauen Karriere machen oder Mütter arbeiten.
In der Linguistik nennt man das eine konversationelle Implikatur: Wir sagen zwar nicht explizit, dass es „nicht normal“ ist, dass Frauen arbeiten oder Karriere machen, aber wir meinen das stillschweigend mit.
Das liegt an den sogenannten Konversationsmaximen, die der Sprachphilosoph H. P. Grice 1967 „entdeckt“ hat. Im Fall von „Powerfrau“ oder „Karrierefrau“ gilt die Maxime der Relevanz. Wäre es nicht relevant, die „Power“ oder „Karriere“ extra zu betonen, würden wir es gar nicht erst so formulieren.
Wie im Grice’schen Beispiel vom Kapitän und dem Maat.
Der Kapitän schreibt ins Logbuch: Heute, 11. November, der Maat ist betrunken. Der Maat liest den Eintrag, wird wütend und schreibt seinerseits: Heute, 12. November, der Kapitän ist nicht betrunken.
Die Implikatur ist klar: Normalerweise ist der Kapitän betrunken, doch heute – es geschehen noch Zeichen und Wunder – mal nicht!
Die Maxime der Relevanz greift auch, wenn wir sagen:
Heute war das Essen in der Mensa mal lecker.
Oder:
Heute hat Michael mal selbst das Klo geputzt.
Wir implizieren mit diesen Sätzen, dass der Normalfall ein ganz anderer ist. Deshalb sind auch solche Begriffe wie „Frauenfußball“ bescheuert. Und deshalb tut sich die Female-Empowerment-Bewegung keinen Gefallen damit, von „Powerfrauen“, „Karrierefrauen“ und Co. zu sprechen.
Wie absurd diese Wörter eigentlich sind, merken wir spätestens, wenn wir das männliche Pendant bilden:
Powermann
Karrieremann
Manpreneur
Bosssir
Sirboss
Working Dad
Dadpreneur
HEO
Diese Begriffe gibt es nicht, weil es für Männer „normal“ ist, „Power“ zu haben oder Karriere zu machen. Und weil die Frage, ob ein Mann Kinder hat, in einer Gesellschaft, in der Mütter immer noch einen Großteil der Care-Arbeit übernehmen, zu vernachlässigen ist.
Deshalb ist es auch so witzig, wenn der Satire-Account „Man who has it all“ twittert:
Working husband? How do you keep your energy levels up? Jack, age 28 „I keep an almond in my coat pocket“. Inspirational.
Mindestens genauso problematisch ist die Verniedlichung von Frauen mit Begriffen wie
Girlboss
Bossbabe
Girlpreneur
Girlpower
„Girlboss“ geht auf „Nasty Gal“-CEO Sophia Amoruso zurück, die den Begriff mit ihrem gleichnamigen Buch 2014 in die Welt gebracht hat.
Doch was sagen Begriffe wie „Girlpower“ und Co. überhaupt aus?
Vielleicht: „Keine Angst, ich werde mit meiner ‚Power‘ das Patriarchat schon nicht zum Einsturz bringen. Schließlich bin ich ja nur ein kleines Mädchen.“
Oder: „Ich bin nur ein ‚Girl‘ und will ein bisschen ‚Boss‘ spielen.“
Inzwischen hat es sich zum Glück auch ein Stück weit „ausgegirlbosst“. Während Anfang 2017 der Begriff „Girlboss“ im Urban Dictionary noch so erklärt wurde:
A woman in control, taking charge of her own circumstances in work & life. Someone who knows her worth and won't accept anything less. […] She is empowering and inspiring to those around her. She kicks ass!
Heißt es bereits 2021 und 2022:
A person who co-opts popular feminist “girl power” rhetoric as a way to virtue signal to other neoliberals and shield themselves from criticism.
Oder:
Someone who is lauded by themselves or others as a feminist icon, despite not typifing feminism in many ways or sometimes being unpleasant and unethical in a way that is antithetical to feminism.
Von „empowering“ (2017) zu „gegensätzlich zum Feminismus“ (2022) in nur fünf Jahren – wie konnte das passieren?
#2 Die Ästhetik im Female Empowerment
Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir zuvor über die Botschaften sowie über die Bilder und Ästhetik sprechen, die manchmal im Namen der Girlboss-Mumpreneurs-Female-Empowerment-Bewegung verbreitet wird.
Geben wir den Begriff „Girlboss“ in Fotodatenbanken wie Canva ein, sehen wir zu 95% einen ganz bestimmten Typ Frau.
Weiß.
Jung.
Schlank.
Gestylt.
Reine Haut.
Volles Haar.
Stilvoll gekleidet.
Ein typisches „Girlboss“ laut Canva: jung, schlank, schön.
Eine heile, glorifizierte, pastellige Welt aus Apple-Gerät, duftenden Blumensträußen, Kaffeebechern und Terminplanern (denn ein Girlboss ist busy!).
Ein typischer „Workplace“ eines „Girlboss“: Laptop, Blumen, Pastell.
Wen sehen wir auf prototypischen Girlboss-Bildern nicht oder vergleichsweise selten? Richtig: Women of Colour, Muslimas, Transfrauen, Frauen jenseits der 50 oder Vielfalt von Frauenkörpern.
Was findet auf den prototypischen Girlboss-Bildern üblicherweise nicht statt? Richtig: der meist unglamouröse Alltag von Frauen, die sich selbstständig machen und dabei mit diversen Gender Gaps zurechtkommen müssen.
#3 Botschaften im Female Empowerment
Die typischen Bilder der Selbstverwirklichungsbubble stehen für einen weißen, wohlhabenden „Feminismus“ und haben mit der Realität der meisten Frauen nur wenig zu tun.
Nicht selten legen sie einen so starken Fokus auf „Good Vibes Only“, sodass ihre „positiven“ Botschaften ins Toxische gehen und Herausforderungen, Probleme, Rückschläge grundsätzlich ignorieren.
Vor allem aber passen diese Bilder zu der Kernbotschaft, die im Namen des Female Empowerment verbreitet wird:
Du kannst super erfolgreich werden, wenn du nur hart genug (an dir) arbeitest und dabei stets positiv bleibst.
Sheryl Sandberg hat diese neoliberale Message im Namen der Frauenbewegung 2013 in die Welt gesetzt.
In ihrem Buch – mittlerweile ein Bestseller und Klassiker – „Lean in. Frauen und der Wille zum Erfolg“ schreibt Sandberg sinngemäß:
„Wenn Frauen hart arbeiten und mutig sind, können sie alles erreichen, was sie sich vornehmen.“
Hört sich erst einmal gut an, ist bei näherem Hinsehen aber nur ein unreflektierter Worthaufen, der stark nach Privilegien riecht.
Sheryl Sandberg, die bis Herbst 2022 COO von Facebook war, hat ein geschätztes Vermögen von 1,5 Milliarden Dollar. Nicht Millionen, MILLIARDEN. Und vermutlich lehne ich mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage:
Einer weißen, reichen Frau kommen solche Sätze leichter über die Lippen als beispielsweise Alleinerziehenden, deren Zeit, Kraft und finanzielle Ressourcen nun einmal beschränkt sind. Oder Schwarzen Frauen, die täglich Diskriminierungserfahrungen machen.
Für die meisten Frauen dieser Erde gibt es in patriarchalen Strukturen Grenzen. Selbst wer als Frau weiß und glücklich verheiratet ist – sobald Kinder ins Spiel kommen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir nach durchgemachten Nächten und dank Gender Care Gap erst einmal nicht sooo leistungsfähig sind.
Überhaupt gehen Female Empowerment und die Hustle Culture, für die vor allem Millenials anfällig zu sein scheinen, erstaunlich oft Hand in Hand.
Häufig das Credo der Selbstverwirklichungsbubble: hustle and grind.
Ein echtes „Girlboss“ meint es ernst und gibt jeden Tag alles.
Trinkt erst Kaffee und rettet dann die Welt.
Macht ständig Selfies von sich bei der Arbeit oder eine Instastory davon, wie sie eine Pause macht.
Die Spitze der Selbstverwirklichungsbubble-Hustle-Bubble ist der 5am Club – ein Konzept, das auf das gleichnamige Buch von Robin Sharma zurückgeht.
Sharmas These:
Frühmorgens, wenn alle schlafen, können wir ungestört unseren Zielen nachgehen. Wir können Sport machen, meditieren, lesen. Morgens um 5 Uhr sind die wertvollsten Stunden. (Dich ruft garantiert niemand an. Selbst der WhatsApp-Gruppenchat des Fußballvereins des Kindes bleibt stumm.) Das Wissen, dass du schon etwas für dich getan hast, wird dich den ganzen Tag beflügeln und dich unglaublich produktiv machen.
Einschlägige Beispiele sind schnell gefunden: Tim Cook steht laut Business Insider um 3:45 Uhr auf. Ehemalige First Lady Michelle Obama um 4:30 Uhr. Tim Armstrong um 5 Uhr. Sergio Marchionne um 3:30 Uhr.
Die Botschaft ist klar: Erfolgreiche Menschen sind Frühaufsteher!
Und so zwingen sich „frischgebackene“ Girlbosses Tag für Tag um 5 Uhr aus den Federn, weil erfolgreiche Menschen nun mal nicht snoozen.
Dass wir in der Leistungsgesellschaft weniger schlafen sollen, um noch mehr zu leisten und noch produktiver zu sein, ist zunächst einmal wenig überraschend: Schlaf ist aus kapitalistischer Sicht völlig wertlos. Denn wer schläft, leistet nichts und kann noch nicht einmal etwas konsumieren.
Die Forschungslage ist allerdings gar nicht so eindeutig, wie die 5am-Befürworter*innen tun.
Es gibt Studien, die belegen, dass Morgenmenschen gesünder sind und länger leben. Es gibt aber auch genauso Studien, die zeigen, dass es nichts bringt, sich zum Frühaufstehen zu zwingen, wenn mensch einen anderen zirkadianen Rhythmus hat. Oder dass es keinen Zusammenhang zwischen der Aufstehzeit und dem sozioökonomischen Status gibt.
Kurz: Wer von sich aus früh wach ist, darf gerne um 5 Uhr aufstehen und meditieren. Wer sich schwer damit tut, wird vermutlich nicht produktiver und leistungsfähiger, sondern durch den Schlafmangel auf Dauer krank werden.
Wem ist mit diesem hustlenden, früh aufstehenden Female Empowerment also geholfen? Na, vor allem Männern.
Denn wenn die Antwort der Female-Empowerment-Bewegung auf die diskriminierenden gesellschaftlichen Strukturen lautet, dass Frauen einfach noch härter arbeiten und noch früher aufstehen müssen, wird sich in absehbarer Zeit nichts an diesen Strukturen ändern.
Und wer Frauen zu 100% die Verantwortung für ihren Erfolg oder Misserfolg überträgt oder alles als eine Frage des „richtigen Mindsets“ darstellt, erzeugt unrealistische Ideale, die Frauen in eine Selbstoptimierungsspirale bringen, sie unter Druck setzen und an sich zweifeln lassen.
Das könnte zum Beispiel so aussehen:
#1 Frau möchte mich selbstständig machen.
#2 Frau entdeckt auf Instagram einschlägige Accounts, die ihr sagen: Für dich ist alles möglich, wenn du hart genug arbeitest!
#3 Frau fühlt sich bestätigt, freut sich und beginnt, hart zu arbeiten und sich den Wecker auf 4:30 Uhr zu stellen.
#4 Nach ein paar Tagen/Wochen/Monaten/Jahren merkt sie: Hmmm, irgendwie ist es nicht so glamourös, wie es bei den „Bossbabes“ immer aussieht. Ich arbeite nicht in einem Büro mit Blick auf eine Skyline, sondern auf der Couch zwischen Wäschebergen und Krümeln der Tiefkühlpizza, die ich mir abends um 23 Uhr noch schnell gegönnt habe. Ich bin durch das frühe Aufstehen erschöpft und hab trotz täglichem Meditieren Streit mit meinem Mann, weil ich nicht als einzige den Haushalt schmeißen will. Und zahlende Kund*innen finde ich nach einem Jahr auch nicht!
#5 Frau scrollt noch einmal durch sämtliche Accounts, denen sie auf Insta folgt, und stellt immer wieder fest: Alle anderen schaffen es doch auch. Es muss an mir liegen. Bei allen anderen sieht es leicht aus. Bei mir ist es schwer. Ich bin das Problem. Mit mir stimmt was nicht.
Das ist der große, traurige Widerspruch des Female Empowerment
Frauen sollen empowered werden, doch durch die einseitigen Botschaften, die auf Social Media wie am Fließband produziert und geteilt werden, bekommen sie immer wieder vermittelt, dass sie nicht gut genug sind.
Zum Beispiel, weil sie nach einer Nacht, in der ihre Kinder gekotzt haben und sie zweimal das Bett komplett neu beziehen mussten, es nicht schaffen, um 5 Uhr aufzustehen, Affirmationen aufzusagen und Tony Robbins zu lesen.
Thanks for nothing, Female Empowerment!
#4 Handlungen im Female Empowerment
Doch am beunruhigendsten ist für mich das sogenannte Pinkwashing.
So wie „Greenwashing“ Methoden meint, sich in der Öffentlichkeit ein klimafreundliches Image aufzubauen, während die Handlungen des Unternehmens in der Realität alles andere als umweltfreundlich sind, meint „Pinkwashing“ ein feministisches Image von Unternehmen oder Unternehmer*innen, während die Handlungen eine ganz andere Sprache sprechen.
Sollten Frauen, die sich Female Empowerment auf die Fahnen schreiben, nicht gerade solidarisch mit anderen Frauen sein?
Möchte mensch meinen. Doch die Praxis sieht alles andere als solidarisch aus.
Das Vereinbarkeitsproblem – der Gender Care Gap – zum Beispiel wird nicht etwa dadurch gelöst, Männer und Väter stärker in die Pflicht zu nehmen und für eine gerechtere Aufteilung der Care-Arbeit einzustehen, sondern durch „Nannys“ und „Putzfeen“.
Als ich 2018 das allererste Mal ein größeres Onlineprogramm buchte, war das einer der ersten Tipps, den ich von etablierten Business-Coaches bekam.
Nicht nur, dass sie für sich selbst entschieden, andere Frauen nicht angemeldet oder in Minijobs als Reinigungskraft zu beschäftigen und sie damit in die Altersarmut zu treiben – sie empfahlen ihren Kund*innen, dasselbe zu tun.
Schließlich können wir Frauen ja nicht gleichzeitig ein Imperium aufbauen und das Klo putzen. Oder?
Seit 2018 sind fünf Jahre vergangen, doch geändert hat sich wenig:
Noch immer geben manche Frauen im Namen des Female Empowerment anderen Frauen den Ratschlag, weniger privilegierte Frauen auszubeuten, um erfolgreich zu sein und ihr individuelles Vereinbarkeitsproblem zu lösen.
Es sei ein altes, veraltetes Modell, schreibt Teresa Bücker pointiert, in dem „Macht bedeutet, die ‚Drecksarbeit‘ an Menschen abzutreten, die nur Zugang zu diesen Arten der Arbeit haben. Und privilegierte Frauen machen in diesem Modell mit. Sie stärken es, statt einzufordern, die Arbeitswelt neu zu organisieren.“ (Quelle)
Das Outsourcen der Care-Arbeit, für die frau nun keine Zeit mehr hat, weil sie sich selbst verwirklichen will, steht also im krassesten Widerspruch zu der Botschaft des Female Empowerment: Frauen zu „ermächtigen“, sie handlungsfähig zu machen, Chancengleichheit zu schaffen und die Einkommensschere zu schließen.
Ähnlich sieht es aus, wenn erfolgreiche Onlineunternehmerinnen Freelancerinnen beschäftigen.
Immer wieder sind es gerade die Unternehmerinnen, die sich medienwirksam „Female Empowerment“ auf die Fahnen und Instaposts schreiben, die ihre eigenen Mitarbeiterinnen aus irgendeinem Grund ausklammern, jeden berechneten Euro in Frage stellen, um jedes Angebot grundsätzlich feilschen und Stundensatzerhöhungen pauschal ablehnen, Wochen ins Land ziehen lassen, bevor sie Rechnungen begleichen.
Außen Girlpower, innen Scrooge.
Wenige Jahre nach „Lean in“ müssen wir also feststellen: Es reicht eben nicht, einzelne Frauen an der Spitze zu sehen, solange frauenfeindliche Strukturen in der Gesellschaft und in Unternehmen existieren. Denn natürlich sind auch erfolgreiche Frauen nicht davor gefeit, Mitarbeitende auszubeuten und toxische Unternehmensstrukturen fortzuführen.
So wie Girlboss Sophia Amoruso, die schwangere Mitarbeiterinnen feuerte und mit Nasty Gal letzten Endes Insolvenz anmeldete.
Oder Audrey Gelman, die mit „Wing“ einen sicheren Coworking-Space für Frauen und nicht-binäre Menschen gründen wollte, der sich dann aber als rassistisch und diskriminierend entpuppte.
Oder Elizabeth Holmes, die in ihrem Unternehmen Theranos eine Kultur der Angst und Geheimhaltung schuf, einige Zeit als erste Selfmade-Milliardärin galt und inzwischen wegen Anlagebetrugs zu elf Jahren Haft verurteilt wurde.
Die Bilanz der (selbsterklärten) Girlbosses ist also ernüchternd. Doch die Spitze der systematischen Ausbeutung von Frauen im Namen von Girlpower sind sogenannte MLMs.
MLM ist die Abkürzung für Multi-Level-Marketing, was auch als „Network-Marketing“ oder „Direktvertrieb“ bezeichnet wird. Die vielleicht bekanntesten Beispiele für MLMs in Deutschland sind Tupperware, Vorwerk (Thermomix), Mary Kay oder die DVAG.
Der Grundgedanke ist, dass Produkte direkt von zufriedenen Kund*innen empfohlen und verkauft werden.
Ganz praktisch sieht das dann so aus:
Deine Nachbarin ruft dich an und lädt dich zu einer Tupperparty ein …
Die Mitschülerin, von der du schon neunzehn Jahre nichts gehört hast, findet dich plötzlich auf Facebook und fragt dich, ob du schon von diesem Nahrungsergänzungsmittel gehört hast, mit dem sie ihren bettlägerigen Cousin dritten Grades wieder zum Laufen gebracht hat …
Eine völlig Unbekannte schreibt dir auf Instagram, dass sie genauso jemanden wie dich sucht und es viele Möglichkeiten für solche Macher-Menschen wie dich gibt, sich selbst zu verwirklichen …
Ein Kumpel faselt auf einmal etwas von Strukturvertrieb und Lebensversicherungen und davon, dass es ganz einfach ist, fünfstellig im Monat zu verdienen …
Die Versprechen der MLM-Bubble sind in der Tat gigantisch.
Wir können völlig flexibel Geld verdienen.
Ganz bequem von zu Hause aus.
Selbst wenn wir siebzehn Kinder und drei Goldfische haben.
Es sind überhaupt keine Vorkenntnisse nötig.
Dafür winken quasi grenzenloses, passives Einkommen, ja finanzielle Freiheit gar – solange der richtige Einsatz gebracht wird.
Dabei ist inzwischen klar, dass der Hauptumsatz bei MLMs nicht durch den Verkauf der Produkte generiert wird, sondern durch das Anwerben von neuen Mitgliedern, die wiederum Produkte verkaufen.
Solche Praktiken sind sowohl in der Europäischen Richtlinie zu unlauteren Geschäftspraktiken (Richtlinie 2005/29/EG) als auch im deutschen Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG §16 Abs. 2) nicht erlaubt.
Deshalb wird in MLMs einfach nicht transparent gesagt, dass die Rekrutierung von neuen Mitgliedern im Fokus steht. Fertig ist der durch und durch undurchsichtige „Werde dein eigener Girlboss“-Kuchen.
Denn ja: Natürlich werden durch die Betonung auf Flexibilität und Vereinbarkeit vor allem Frauen angesprochen.
Doch wie Dr. Claudia Groß vom Institute for Management Research der Radboud University Nijmegen zeigt, werden die Selbstverwirklichungs- und Umsatzversprechen nicht eingelöst. Durch die teils illegalen Praktiken, den Missbrauch sozialer Beziehungen und die sektenähnliche Zustände profitieren nur wenige an der Spitze.
Ein Mensch aus 40.000 wird mit MLMs reich.
Ein Mensch aus 2.000 kann mit MLMs ein Nettoeinkommen von 2.500–4.000 erwirtschaften.
Die durchschnittlichen Einkünfte, so Dr. Claudia Groß, liegen bei MLMs aber weit unter dem Mindestlohn. (Quelle)
Daran ändert auch nichts, dass eine Reihe von Celebritys sich positiv über MLMs äußern, als Speaker auf MLMs-Events auftreten oder gleich ganz einsteigen. Tony Robbins, GaryV, Chuck Norris, Jürgen Klopp. Die Liste ist lang.
MLMs sind für nahezu alle Menschen, die mitmachen, ein Verlustgeschäft und ganz sicher nicht die Möglichkeit für Frauen, sich selbst zu verwirklichen und finanziell frei zu werden.
Und weil es so unfassbar traurig ist, dass vor allem Frauen so bewusst und systematisch – oft im Namen des Female Empowerment – getäuscht werden, etwas Comic Relief.
#5 Kapitalismus in pink
Die Female-Empowerment-Bewegung auf Social Media ist also auffällig systemkompatibel. Schließlich müssen sich weder Männer noch Strukturen ändern, sondern wieder einmal wir Frauen.
Wir sind es, die mehr leisten müssen.
Wir sind es, die früher aufstehen müssen.
Wir sind es, die nicht gut genug sind.
Diese Botschaften sind praktisch fürs Marketing. Denn wer Frauen als Mangelwesen darstellt, kann ein Produkt anbieten, das diesen Mangel vermeintlich behebt.
Es ist ein perfides Businessmodell: Frauen einreden, dass sie nicht gut genug sind, und ihnen danach ein hochpreisiges vier-, fünf- oder sechsstelliges Produkt anbieten, damit sie sich endlich wertvoll fühlen.
Nicht selten werden Frauen dabei zusätzlich unter Druck gesetzt, indem ihnen ein „falsches Mindset“ attestiert wird, sollten sie diese Beträge nicht zahlen wollen oder können.
Das heißt jetzt nicht, dass Selbstständige, die mit anderen Frauen zusammenarbeiten, niemals verkaufen dürfen. Oder dass ihre Produkte nicht das kosten dürfen, was sie wert sind.
Es ist aber ein großer Unterschied, ob ich einen bestehenden Bedarf bediene und bestehende Probleme lösen will oder ob ich die Frau als defizitäres Wesen inszeniere und es als ihre einzige Möglichkeit darstelle, ein teures Programm zu kaufen.
Manchmal werden noch nicht einmal Ratenzahlungen angeboten (und wenn doch, grundsätzlich immer mit einem saftigen Aufpreis im Vergleich zur Einmalzahlung) und Frauen werden direkt oder indirekt ermuntert, einen Kredit aufzunehmen und Schulden zu machen.
Die dunkle Seite des Female Empowerment treibt Frauen also mit ihren Gaslighting-Praktiken nicht nur in den finanziellen Ruin, sondern erfüllt auch eine Gatekeeping-Funktion, indem sie Selbstverwirklichung nur für Frauen mit entsprechenden finanziellen Ressourcen – oder diejenigen, die bereit sind, sich dafür zu verschulden – zugänglich macht.
„Gaslight, Gatekeep, Girlboss“.
Das ist nicht Female Empowerment sondern ein weißer „Upper Class“-Feminismus, von dem nur die Frauen profitieren, die eh schon privilegiert sind.
Die Tassen, Taschen, Shirts, Hoodies, Notizbücher, Stifte, Mousepads, Handyhüllen, Sticker, Poster, Schlüsselanhänger und Jutebeutel, auf denen „Girlboss“ oder „Girlpower“ gedruckt wird, wirken dagegen fast schon harmlos …
… sind es aber natürlich auch nicht. Hier wird nicht nur Zugehörigkeit durch Konsum erkauft. Die Shirts, auf den „Girlpower“ steht, werden nicht selten von Frauen in Südostasien unter prekären Bedingungen genäht.
Back to the roots
Natürlich ist das Anliegen, Frauen zu stärken und ihnen zu Chancen- und Einkommensgleichheit zu verhelfen, ein wichtiges.
Nur müssen wir Female Empowerment nicht individuell denken, sondern strukturell.
Wir müssen nicht das Vereinbarkeitsproblem von einigen wenigen glücklichen (weißen) Frauen lösen, sondern idealerweise von allen oder zumindest von möglichst vielen.
Wir können mit dem Frauenbild starten, dass Frauen bereits genug sind, so, wie sie sind, und dass sie sich nicht optimieren müssen, um erfolgreich zu werden. Klar dürfen Frauen lernen, wachsen und sich verändern – doch aus intrinsischer Motivation, weil sie ein Thema interessiert und sie es wollen.
Wir können ihr Vertrauen in ihre Fähigkeiten stärken, statt ihnen das Gefühl zu geben, dass ihnen etwas fehlt.
Wir können den Selbstwert von Frauen von Leistung und Erfolg entkoppeln und ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie auch dann wertvoll sind, selbst wenn ein Plan nicht gelingt, selbst wenn sie nichts leisten.
Wir können anfangen, komplexere, realistischere Botschaften auf unseren Kanälen zu verbreiten. Botschaften, die deutlich machen: Der Weg zu einer erfolgreichen Selbstständigkeit ist nicht immer gerade, einfach und pastellig. Wir können Wege aufzeigen, wie es vielleicht etwas leichter geht.
Wir können für Diversität einstehen und Frauen jeglicher Herkunft, Religion ansprechen und beschäftigen. Wir können darauf achten, dass die Bilder, die wir nutzen, die Vielfalt von Frauenkörpern abbilden, und nicht nur die Norm.
Wir können unsere Botschaften einem Intersektionalitätscheck unterziehen und uns fragen, ob wir hier aus einer privilegierten Position sprechen oder die tatsächlichen Lebensrealitäten, die oft Begrenzungen enthalten, mitdenken.
Wir können bei uns ansetzen und unsere eigenen Mitarbeiterinnen fördern, wertschätzen, respektieren, stärken und angemessen bezahlen.
Und zwar nicht nur am Frauentag, sondern 365 Tage im Jahr.
Inspirationszitathölle 😈 – „Inspirierende“ Zitate, die problematische Botschaften verbreiten
Wie viel Bullshit steckt eigentlich in den beliebtesten und berühmtesten „motivierenden“ und „inspirierenden“ Zitaten und Sprüchen auf Social Media? Eine Menge! Die meisten Inspirationszitate machen uns nicht etwa inspirierter, motivierter und produktiver, sondern nerven und setzen uns gewaltig unter Druck. Ein Erklärungsversuch.
Wie viel Bullshit steckt eigentlich in den beliebtesten und berühmtesten inspirierenden Zitaten und Sprüchen auf Social Media?
The answer may (not) surprise you: Eine Menge!
Die meisten Inspirationszitate machen uns nicht etwa inspirierter, motivierter und produktiver, sondern nerven und setzen uns gewaltig unter Druck.
Doch warum spüren wir eigentlich immer so ein Grummeln im Bauch, wenn „Bro Marketer“ Tobi, 23, auf Insta postet, dass wir stärker sein sollen als unsere Ausreden?
Warum zuckt es immer so komisch in unserem Auge, wenn Girlboss Sophia uns befiehlt, groß zu träumen?
Und warum kommt uns der Kaffee gleich wieder aus der Nase, wenn wir morgens im Halbschlaf was von „Positive mind, positive vibes, positive life“ lesen?
Ein Erklärungsversuch.
Inspirierende Zitate und Sprüche ermutigen uns, groß zu träumen, doch sie ignorieren gesellschaftliche und politische Realitäten.
Zunächst einmal, weil es niemand von uns mag, wenn unsere Lebensrealitäten, Erfahrungen und Grenzen bagatellisiert, ignoriert oder negiert werden.
Sicherlich kennst du diese Sprüche auch:
„Your only limit is your mind.“ (Unbekannt)
„Jeder ist seines Glückes Schmied.“ (Sprichwort)
„Du kannst alles schaffen, wenn du nur genug daran glaubst.“ (Unbekannt.)
„Alle Träume können wahr werden, wenn wir den Mut haben, ihnen zu folgen.“ (Walt Disney)
„Wenn du es dir vorstellen kannst, kannst du es auch tun.“ (Walt Disney)
„Believe you can and you're halfway there.“ (Theodore Roosevelt)
„Hindernisse können mich nicht aufhalten; Entschlossenheit bringt jedes Hindernis zu Fall.“ (Leonardo da Vinci)
„Wenn du etwas ganz fest willst, dann wird das Universum darauf hinwirken, dass du es erreichen kannst.“ (Paulo Coelho)
„There is nothing impossible to they who will try.“ (Alexander der Große)
„All you need is the plan, the road map, and the courage to press on to your destination.“ (Earl Nightingale)
„If my mind can conceive it, if my heart can believe it, then I can achieve it.“ (Muhammad Ali)
„All dreams are within reach. All you have to do is keep moving towards them.“ (Viola Davis)
„Be stronger than you excuses.“ (Unbekannt)
„To hell with circumstances; I create opportunities.” (Bruce Lee)
„The only place where your dreams become impossible is in your own thinking.“ (Robert H. Shuller)
Du liest diese Sprüche und denkst dir einfach nur: Nein.
Alles zu schaffen, wenn man nur stark genug daran glaubt – das war, ist und wird für die meisten Menschen dieser Erde einfach niemals Realität.
Eine Frau kann ja zum Beispiel gerne davon träumen, einen Managerposten zu ergattern. Doch statistisch hatte sie die längste Zeit schlechtere Chancen als jemand, der einfach nur Thomas oder Michael hieß. Das kann man sich gar nicht ausdenken. Und da können wir uns dann noch so oft vorsagen, dass wir nur fest genug daran glauben müssen. Gegen den Thomas-Kreislauf kommen wir als Frauen nur schwer an.
Ebenso wird es schwerer sein, sich selbst zu verwirklichen, wenn man es mit rassistischen oder ableistischen Strukturen aufnehmen muss. Oder mit Homophobie, Gewalt oder mit Xenophobie.
Diskriminierungserfahrungen kosten unfassbar viel Kraft, die dann wiederum für Selbstverwirklichung fehlt.
Man stelle sich nur vor, wie Frauen im Iran „Your only limit is your mind“ lesen. Da möchte man sich für alle Menschen, die so etwas unreflektiert posten, kollektiventschuldigen.
Deshalb: Nein, wir tragen nicht zu 100% die Verantwortung für unseren Erfolg und Misserfolg. Unsere Herkunft, Umstände und das politische System, in das wir hineingeboren werden, spielen sehr wohl eine Rolle. Da können wir noch so oft an unserem „falschen Mindset“ arbeiten.
Ja, wir können uns mit unseren eigenen Gedanken motivieren oder limitieren, keine Frage. Doch natürlich immer im Rahmen unserer individuellen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Möglichkeiten.
Und dass Menschen das 2023 immer noch nicht verstehen, geht uns allen inzwischen gewaltig auf den Keks.
Inspirierende Zitate und Sprüche unterliegen der spätkapitalistischen Wachstumslogik und machen uns alle müde und erschöpft.
Mindestens genauso schlimm sind die Hustle-Zitate, denn der „Hustle“ – das ist in diesen Zitaten eine Lebenseinstellung, ja, fast schon eine Religion.
Jede Sekunde des Tages muss bestmöglich genutzt werden. Schlafen ist was für Luschen. Wenn wir schlafen, können wir schließlich nicht arbeiten; und wenn wir nicht arbeiten, können wir kein Geld verdienen; und wenn wir kein Geld verdienen, können wir es ja auch gleich sein lassen mit dem Kapitalismus.
Der Job wird über alles gestellt und genießt in allen Situationen oberste Priorität. Schließlich gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder du arbeitest zwanzig Stunden am Tag oder du bleibst erfolglos. Dazwischen gibt es nun einmal nichts. #fact
Du weißt sicherlich, was ich meine:
„I’ve got a dream that’s worth more than my sleep.“ (Unbekannt)
„I’d rather hustle 24/7 than slave 9 to 5.“ (Unbekannt)
„Go hard or go home.“ (Unbekannt)
„Eat. Sleep. Hustle. Repeat.“ (Unbekannt)
„Without hustle, talent will only carry you so far.“ (GaryV)
„Good things happen to those who hustle.“ (Anais Nin)
„Stop whining, start hustling.“ (GaryV)
„Wähle einen Job, den du liebst, und du musst keinen Tag mehr im Leben arbeiten.“ (Unbekannt)
„Be the best version of yourself.“ (Unbekannt)
„Es ist nicht von Bedeutung, wie langsam du gehst, solange du nicht stehenbleibst.“ (Konfuzius)
„Hustle until you no longer need to introduce yourself.“ (Unbekannt)
„Stay positive, work hard, make it happen.“ (Unbekannt)
„If you live for the weekends and vacations, your shit is broken.“ (GaryV)
„Your 9-5 may make you a living, but your 5-9 makes you alive!“ (Nick Loper)
“My entire life can be summed up in four word: I hustled. I conquered.“ (Unbekannt)
„Invest in your dreams. Grind now. Shine later.“ (Unbekannt)
„Hustle beats talent when talent doesn’t hustle.“ (Ross Simmonds)
„Greatness only comes before hustle in the dictionary.“ (Ross Simmonds)
„Entrepreneurship is living a few years of your life like most people won’t. So that you can spend the rest of your life like most people can’t.“ (Unbekannt)
„Hustle isn’t just working on the things you like. It means doing the things you don’t enjoy so you can do the things you love.“ (Unbekannt)
„Don’t stay in bed unless you can make money in bed.“ (George Burns)
„Things may come to those who wait, but only the things left by those who hustle.“ (Abraham Lincoln)
„Success is never owned, it’s rented. And the rent is due every day.“ (Unbekannt)
„Today I will do what others won’t, so tomorrow I can accomplish what others can’t.“ (Jerry Rice)
Man muss keine Wahrsagerin sein, um zu prognostizieren, dass das eine ganz, ganz gefährliche Einstellung ist und Menschen, die 24/7/365 durcharbeiten, ihre Gesundheit ernsthaft aufs Spiel setzen und andere Lebensbereiche (Freunde, Familie, Kinder, Haushalt, Hobbys) sträflich vernachlässigen.
(Wobei … so als Mann hat man ja meist weniger Probleme in Punkte Vereinbarkeit. Das ist dann schon praktisch.)
Selbst wenn wir das, was wir tun, lieben, brauchen wir Pausen.
Und auch wenn die Menschen, mit denen wir arbeiten, mehr an Freundschaften erinnern als an Kundschaft, haben wir ein Recht auf Feierabend und Wochenende.
Oder um es mit Ovid zu sagen: „Was keine Pause kennt, ist nicht von Dauer.“
Deshalb nervt es auch so sehr, dass die Bros und Girlbosses auf Insta so tun, als wären Menschen Waren, deren Wert sich einzig daran bemisst, wie produktiv sie sind.
Inspirierende Zitate und Sprüche werten Alltägliches und Normalität ab.
Ein weiterer Grund, warum uns einige Inspirationszitate oft den letzten Nerv rauben, ist, dass sie Alltägliches, Gewöhnliches, Normalität und Durchschnittlichkeit abwerten und problematisieren.
Es reicht nicht, dass du einfach nur selbstständig bist, nein, du musst EIN IMPERIUM aufbauen und SIEBENSTELLIGE MONATSUMSÄTZE machen.
Wir müssen besessen von Erfolg sein, sonst werden wir alle noch *dramatische Pause* DURCHSCHNITTLICH.
Ja, durchschnittlich sein – das ist die größte Angst, die der durchschnittliche Entrepreneur mit dem durchschnittlich schicken Auto hat.
Er ist nie zufrieden, und alle, die zufrieden sind und „for mediocrity settlen“, sind grundsätzlich verdächtig und Menschen zweiter Klasse.
Diese ungewöhnlichen Menschen sagen dann gewöhnlicherweise solche Sachen wie:
„I’m not here to be average. I’m here to be awesome.“ (Unbekannt)
„Dream big“ (Unbekannt)
„Think big, dream big, believe big and the results will be big.“ (Unbekannt)
„Das Leben beginnt dort, wo deine Komfortzone endet.“ (Unbekannt)
„Escape the ordinary.“ (Unbekannt)
„How dare you settle for less when the world has made it so easy for you to be remarkable?“ (Seth Godin)
„There is never a bad time to start a business – unless you want to start a mediocre one.“ (GaryV)
„You are unique. Don’t be a follower, be a leader.“ (Unbekannt)
„Don’t get comfortable with mediocrity.“ (Unbekannt)
„Being realistic is the most common path to mediocrity.“ (Will Smith)
„Never ever settle for mediocrity.“ (Unbekannt)
„Never let ‚good enough‘ be ‚good enough‘.“ (Unbekannt)
„A life of mediocrity is a waste of life.“ (Unbekannt)
„Be motivated by the fear of becoming average.“ (Unbekannt und seriously – WTF?😂)
„Dare to dream big“ (Unbekannt)
„Dream big, sparkle more, shine bright“ (Unbekannt)
„In a world full of average be outstanding.“ (Unbekannt)
„I did not wake up today to be average.“ (Unbekannt)
„Average will not be my legacy.“ (Unbekannt)
„‚Normal‘ is not in my dictionary.“ (Unbekannt)
Warum setzen sich Menschen bloß so sehr unter Druck?
Klar ist jede*r von uns besonders – in dem Sinne, dass es vermutlich niemanden auf der Welt gibt, der oder die dieselbe Kombination von Stärken, Schwächen, Erfahrungen, Ansichten, Meinungen, Werten und Lieblingssongs hat wie wir.
Doch der Alltag ist eben auch … Alltag. Ist die Komfortzone nicht auch etwas Schönes? Und sind wir nicht alle in den meisten Dingen völlig normal, mittelmäßig und manchmal auch etwas langweilig?
Das lässt sich übrigens auch wissenschaftlich belegen.
Das ist die sogenannte Gaußsche Normalverteilung.
Diese Glockenkurve ist einer der wichtigsten Typen von Wahrscheinlichkeitsverteilung und wird nicht nur in Naturwissenschaften, sondern auch in Wirtschafts- oder Geisteswissenschaften verwendet.
Vereinfacht ausgedrückt sagt die Glockenkurve:
Wenn wir untersuchen, wie ein bestimmtes Merkmal unter allen Menschen verteilt ist (Körpergröße, Intelligenz, Talent, you name it), werden sich die meisten Menschen bei den meisten Dingen irgendwo in der Mitte wiederfinden. Und es wird nur wenige Ausreißer nach links oder rechts geben.
Lernst du Gitarre, ist die Wahrscheinlichkeit also groß, dass du nicht der nächste Django Reinhardt, aber eben auch kein totaler Loser sein wirst, sondern gerade mal so gut spielst, dass Menschen nicht panisch das Wohnzimmer verlassen, wenn du die ersten Takte von „Wonderwall“ anschlägst.
Lernst du kochen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du es niemals mit Jamie Oliver aufnehmen wirst, aber deine Familienmitglieder zum Glück auch nicht vergiftest, sondern im Großen und Ganzen essbare Lasagnen produzierst.
Machst du dich selbstständig, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du kein „siebenstelliges Business“ haben wirst, aber eben auch nicht nur zwei Follower auf Instagram (deine Mama und beste Freundin), sondern einfach einigermaßen zurechtkommst. Mit besseren und schlechteren Zeiten.
Usw.
Das wahrscheinlichste Szenario ist also, dass wir in dem meisten, was wir tun, Mittelmaß sein werden. Langweiliges, gewöhnliches, durchschnittliches, normales Mittelmaß. Auch in unserer Selbstständigkeit und in unserem Marketing.
Ich persönlich finde das gar nicht so erschreckend, wie sich das auf den ersten Blick vielleicht anhören mag, sondern eher eine beruhigende Nachricht. Denn sie befreit uns endlich von diesem unsäglichen Druck, „groß zu träumen“ oder „außergewöhnlich“ sein zu müssen.
Auch das Normale und Gewöhnliche hat einen Wert. Oder haben wir schon wieder vergessen, wie wir uns damals in dem ersten Lockdown nach „einem Stück Normalität“ sehnten?
Vielleicht könnten wir dann ja auch bitte aufhören, so zu tun, als wären wir jemand, der wir nicht sind, und einfach unser Ding machen? Danke!
Zitate, die wollen, dass wir unsere Persönlichkeit verändern, nerven – und halten vermutlich unzählige Menschen davon ab, Arbeit zu erledigen, die okay, in Ordnung und einfach nur gut genug ist.
Inspirierende Zitate und Sprüche verbreiten toxische Positivität und stellen eine Gefahr für unsere mentale Gesundheit dar.
Wir müssen positiv bleiben, reden, sein – egal, was ist. Manche bezeichnen das schon als das „Diktat des positiven Denkens“ oder toxische Positivität.
Wenn ein Plan nicht gelingt und wir uns ärgern – macht nichts, solange wir immer schön weiterlächeln.
Und huch, da war ja ein negativer Gedanke – schnell in einen positiven verwandeln.
Meckern, schimpfen und Co. ist nicht – schließlich müssen wir immer und überall Good Vibes Only versprühen.
Hängen dir diese Sprüche inzwischen auch so zum Halse raus wie mir?
„Good vibes only.“ (Unbekannt)
„For every minute you are angry you lose 60 seconds of happiness.“ (Ralph Waldo Emerson)
„Say no to negative thoughts.“ (Unbekannt)
„Be happy. It drives people crazy.“ (Unbekannt)
„Positive mind, positive vibes, positive life.“ (Unbekannt)
„Once you replace negative thoughts with positive ones, you’ll start having positive results.“ (Willie Nelson)
„All things are positive if you believe.“ (Unbekannt)
„Being positive is a sign of intelligence.“ (Maxime Lagacé)
„Don‘t forget to smile.“
„Don’t worry, be happy.“
Diejenigen, deren Probleme sich in Luft auflösten, nachdem sie solch ein Zitat lasen, heben bitte die Hand!
Vermutlich werden wir uns nach diesen Zitaten noch nicht einmal besser fühlen, denn die Diskrepanz zwischen den Worten einerseits und den erlebten Gefühlen andererseits ist einfach zu groß.
Wir sagen „Don’t worry, be happy“ und verschlimmbessern unsere Situation, denn Gefühle wollen nicht verdrängt und negiert werden, sondern gefühlt, akzeptiert und verarbeitet.
Wir können nicht immer nur „nein zu ‚negativen‘ Gefühlen“ sagen, denn die gehören zu einer menschlichen Existenz nun einmal dazu und meist haben sie auch eine wichtige Funktion. Angst, Wut, Trauer sind schließlich nicht ohne Grund da.
Sie sind da, weil sie uns zeigen wollen:
„Achtung, Achtung. Alarm, Alarm. Hier ist gerade etwas nicht in Ordnung. Action required. Action required.“
Sollten wir nicht dann nicht lieber diese Notrufe ernst nehmen, statt sie zu ignorieren? Wir lösen Probleme doch nicht, indem wir sie durch einen Insta-Filter jagen. Wir verändern auch nichts an sozialen Missständen und Ungerechtigkeit, wenn wir wütenden Menschen ein „Fokussiere sich mal auf das Positive“ entgegensetzen.
Aber vielleicht ist das ja auch so gewünscht? Die Positive Psychologie ist schließlich verdammt systemkompatibel.
Denn wenn ich daran glaube, dass ich und nur ich alleine für mein Glück verantwortlich bin, indem ich bei Wut, Frust oder Erschöpfung einfach positiv denke, kommt mir ja gar nicht in den Sinn, etwas an den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen oder sozialen Missständen zu ändern.
All things are positive when you believe.
Wie praktisch.
Warum wir dringend über den Gender Care Gap reden müssen
Wir müssen reden! Über den Gender Care Gap in der Selbstständigkeit, weltfremde Tipps von priviligierten Business-Coaches und warum „Dream big“ die meisten selbstständigen Frauen unter Druck setzt, statt sie zu motivieren.
Disclaimer:
Dieser Blogartikel könnte verstörend wirken, wenn du kein feministisches Gedankengut in dir trägst.
Wenn du denkst, dass diese „Gleichberechtigungsk*cke nervt“ und wir „das Ganze“ doch schon längst überwunden haben.
Auch wenn du etwas zart besaitet bist und nicht gerne über – nennen wir sie mal – profane menschliche Dinge liest, solltest du lieber nicht weiterlesen.
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Immer noch da?
Gut.
Dann gehe ich davon aus, dass du nichts dagegen hast, wenn ich das Kind beim Namen nenne.
Das Ding ist nämlich: Ich muss etwas Wichtiges loswerden.
Etwas, das ich eigentlich schon längst hatte aussprechen wollen (sollen, müssen!), aber mich bisher nicht traute.
Etwas, das mir immer saurer aufstößt, je länger ich in dieser Onlinebusiness-Welt unterwegs bin.
Etwas, das mich wurmt, frustriert, traurig und zunehmend auch wütend hinterlässt.
Etwas, das vor allem dann für dich relevant ist, wenn du selbstständig bist und Kinder hast.
Puh. Einmal tief durchatmen. Bist du bereit?
Dann starte ich am Anfang und erzähle alles der Reihe nach …
Teil 1: Dream big …
Beginnen wir mit dem flauschigen Teil, der von Träumen handelt.
Von großen Träumen.
Denn wenn du selbstständig bist und die letzten Jahre nicht gerade unter einem Stein gewohnt hast, kennst du mit Sicherheit das Credo der meisten Business-Coaches und Inspirationszitate da draußen:
Dream big.
Träume groß.
Denke groß.
Setz dir große Ziele.
Shoot for the stars … und wenn es dir nicht gelingt, landest du eben auf dem Mond!
Ich muss zugeben: Ich mag groß denken oft auch. In der Theorie klingt das nämlich alles ganz hervorragend.
Du kannst alles erreichen, was du willst.
Finanzielle Unabhängigkeit.
Freude, Sinn und Erfüllung.
Sechsstelliger oder siebenstelliger Umsatz. (Im Monat!)
Ist das nicht so viel schöner als ein Teilzeitjob im Büro mit blödem Chef und mickriger Rente? Mit Sicherheit!
Damit wäre der Flausch aber auch schon zu Ende und wir kommen zum zweiten (weniger schönen) Teil des Blogartikels: den profanen Dingen. (Ich hatte dich gewarnt!)
Teil 2: … und wer macht die Wäsche?!
Denn die inspirierenden Motivationszitate von Business-Coaches auf Social Media verraten leider nicht, wer die Bude putzt, während du groß träumst.
Wer einkauft, kocht, die Spülmaschine ein- und ausräumt, die Kinderarzttermine wahrnimmt, die Muffins fürs Kuchenbuffet im Kindergarten backt, die Wäsche wäscht, trocknet und einräumt, Staub wedelt, staubsaugt, den Boden wischt, die Fenster putzt, sich nahrhafte Abendessen überlegt und Einkaufszettel schreibt, Kinder bringt und abholt, Bananenbrot für den Sonntagskaffee backt.
Also: Who cares?
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr, sehr groß, dass du das bist.
Dass du groß träumst und dein „Herzensbusiness aufbaust“, während du gleichzeitig auch Hintern abwischst und Wäsche sortierst.
Selbstverwirklichung meets Gender Care Gap
Denn der Gender Care Gap – it’s a thing.
52,4% mehr Care-Arbeit erledigen Frauen gegenüber Männern.
Und wenn du in deinen Dreißigern bist und Kinder hast, sind es ganze 110,6% (!) mehr.
Auch sonntags verbringen Mütter laut DIW vier Stunden mehr mit Care-Arbeit als ihre Partner. Und sogar wenn beide Eltern Vollzeit arbeiten, erledigen Frauen immer noch 41% mehr Care-Arbeit.
Wie viel Zeit bleibt da eigentlich noch für Selbstverwirklichung? Jetzt mal in echt und ohne die rosarote Pinterest-Inspirationszitat-Brille?
Seit mehr als fünf Jahren arbeite ich hauptsächlich mit anderen selbstständigen Frauen (meistens Müttern) zusammen und kann deshalb sagen, dass ein großer Teil dieser Frauen struggelt. Big time.
In der Realität sieht es nämlich so aus, dass selbstständige Mütter oft …
diejenigen sind, die spontan umplanen müssen, weil wieder mal Homeschooling auf dem Plan steht
wichtige berufliche Termine absagen, um sich um ihre kranken Kinder zu kümmern, weil Väter „sich ja nicht einfach so freinehmen“ können
in die Küche umziehen müssen, weil der Mann Homeoffice macht und das Arbeitszimmer nun mal „braucht“
am Wochenende arbeiten, weil das oft die einzige Möglichkeit für sie ist, Dinge nachzuholen, die sie unter der Woche nicht geschafft haben
bis spät in die Nacht arbeiten (oder bis ihnen die Augen zufallen), weil sie tagsüber diejenigen sind, die Kinder vom Kindergarten holen und sie bespaßen
zusätzlich noch den unsichtbaren Teil der Care-Arbeit leisten, der sich „Mental Load“ nennt (also an Dinge denken, im Blick behalten, planen, organisieren)
Unbezahlt. Ungesehen. Unwertgeschätzt.
Als wäre das schon nicht schlimm genug, gibt es erschreckend viele Business- und Social-Media-Coaches da draußen, die diese gesellschaftliche Realitäten ignorieren und die „Du kannst alles schaffen, wenn du nur hart genug arbeitest“-Idee bis zum Äußersten treiben.
Dein Business ist nicht so erfolgreich, wie du gerne hättest?
Dann liegt es mit Sicherheit daran, dass deine Ziele nicht groß genug sind!
Du hast nur wenig Zeit, um dein Business aufzubauen? Dann steh doch einfach noch früher auf (#miraclemorning) oder noch besser: Geh gar nicht erst schlafen! Hast du doch alles selbst in der Hand.
Du bist mit Selbstständigkeit und Kindern hoffnungslos überfordert? Dann verbessere doch dein Zeitmanagement! Trödel halt nicht zu viel. Alles eine Frage der Prioritäten.
Du fühlst dich ausgebrannt und kannst einfach nicht mehr? Komm schon! Wer sein Business liebt, braucht keine Pausen. Und abends erreichst du nun mal die meisten Menschen auf Instagram. #fact
Diese Beispiele habe ich mir nicht etwa ausgedacht (schön wär’s), sondern ist teilweise O-Ton von den Business-Coaches verzweifelter Kund*innen, die ausgebrannt sind und in unseren Gesprächen, bei denen es ja eigentlich um Marketing gehen soll, weinen.
Bin das nur ich oder stinkt da was gewaltig zum Himmel?!
Nicht die Arbeitsmoral der selbstständigen Mütter ist das Problem, sondern Strukturen und Beziehungen, die Unmögliches von ihnen abverlangen.
Dream big – aber back gleichzeitig auch Bananenbrot für die Kita!
Sei die liebende Mutter, die du bist, und immer zur Stelle, wenn die Kinder krank sind – aber poste jeden Tag auf Insta und mach 10 Storys!
Wie soll das bitte schön gehen, wenn der Tag nunmal 24 Stunden hat und man mit seinem Popo nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann?
(Und ich rede hier noch nicht einmal von alleinerziehenden oder verwitweten Menschen, die jeden Pups alleine stemmen müssen. Das Ausmaß ihrer Belastung kann ich als Frau in einer Partnerschaft sicherlich noch nicht einmal erahnen …)
Es sei denn …
Selbstverwirklichung meets Privilegien
… ja, es sei denn, die Business-Coaches, die Mütter zum Dauerhustle animieren, sind überproportional häufig eins: privilegiert.
Männer zum Beispiel, die selbst keine Kinder oder aber eine Frau haben, die ihnen „den Rücken freihält“, während sie ihren „entrepreneurial success“ feiern.
Während Gary also überall seine toxische „Hustle Culture“ verbreitet und von den großen Bühnen dieser Welt „Stop making excuses for not working towards your dreams“ ruft, nimmt ihm seine Frau 100% der Care-Arbeit ab.
Schon praktisch.
Oder eben: verdammt privilegiert.
Denn Gary muss sich nicht mit solch weltlichen Dingen wie Kochen, Schulaufgaben und Kloputzen beschäftigen, während du, wenn du eine Frau bist und Kinder hast, es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Tag für Tag tust.
Nur, dass wir uns nicht falsch verstehen:
Ich sage nicht, dass du dich als Mutter nicht selbstständig machen solltest. Oder aufhören solltest, GaryV zu lesen.
Ich sage vielmehr:
Wenn du mit erfolgreich sein willst, solltest du sicherstellen, dass auch Thomas mal die Reste von der Kloschüssel kratzt. Schließlich kackt er nicht nur Goldglitter und Feenstaub.
Ja, ich schreib das jetzt einfach mal so direkt.
Fette das auch noch gleich dazu.
Und kursiviere es.
Weil manche Dinge einfach mal in fett und kursiv geschrieben werden müssen.
Und glaube mir, ich würde das Ganze auch noch mit leuchtenden Pfeilen hinterlegen, wenn ich könnte.
Doch es gibt noch mehr:
Jede vierte Frau wird – unabhängig von ihrer sozialen Schicht – mindestens einmal im Leben Opfer von Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner.
Ich vermute: Das Thema gerechte Aufteilung der Care-Arbeit steht bei diesen Frauen nicht unbedingt weit oben auf der Prioritätenliste, sondern eher … ungeschlagen durch den Tag kommen oder … überleben?!
Oder ist häusliche Gewalt auch bloß eine von diesen Entschuldigungen, Gary?
Noch einmal:
Selbstständige Frauen und Mütter brauchen nicht noch mehr Motivationssprüche und Hustle-Tipps von Männern, die die gesamte Care-Arbeit sowieso an ihre Frau abwälzen, sondern Gleichberechtigung. Und gesellschaftliche Strukturen, die Gleichberechtigung forcieren.
Das Mindeste ist aber, dass wir Frauen unsere Ohren auf Durchzug schalten dürfen (müssen!), wenn privilegierte Business-Coaches, die partout gesellschaftliche Realitäten ignorieren, uns irgendwelche weltfremden Tipps an den Kopf werfen.
Selbstverwirklichung meets Ausbeutung
Aber halt, es gibt doch noch einen Ausweg.
Einen total genialen.
Einen, der wirklich funktioniert.
Zumindest sagen es viele erfolgreiche Frauen, wenn man sie fragt, wie sie ihr Business und den Haushalt vereinbaren: eine „Putzfee“!
Klingt doch super: Warum sich mit dem Göttergatten über das dreckige Klo streiten oder Abstriche beim Business machen, wenn du die lästigen Haushaltspflichten auch einfach auslagern kannst?!
Vereinbarkeit? Check!
So einfach ist es leider nicht.
Vielleicht können privilegierte weiße Frauen ihr individuelles Vereinbarkeitsproblem lösen, indem sie sich mehrmals die Woche Reinigungskraft, Babysitter und Nachhilfe leisten, aber für die meisten Frauen dieser Welt ist es eben keine realistische Lösung. Da können sie noch so oft Geld manifestieren oder positiv denken.
Außerdem hat diese „Lösung“ einen hohen Preis. Denn in den meisten Fällen werden haushaltsnahe Dienstleistungen wie die Reinigung der Wohnung an andere Frauen ausgelagert. Und zwar an ökonomisch schwächere.
Mit intersektionalem Feminismus (also dem Ansatz, der neben Geschlecht auch Faktoren wie sozialen Status, Herkunft, Nationalität, sexuelle Orientierung etc. berücksichtigt) hat die „Putzfee“-Lösung also nichts zu tun.
Im Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit, dass man damit ein System unterstützt, das Frauen in die Altersarmut treibt, ist groß. Sehr groß. So genannter Schwarzarbeit und Minijob sei Dank.
Dream big … with a twist!
Also doch nichts mit Selbstständigkeit, großen Zielen und Welt verändern und so?
Klar kannst du „groß träumen“, wenn du willst.
Nur können wir uns Gleichberechtigung nicht einfach schönträumen. Oder mit Inspirationszitaten und Aufrufen zum Dauerhustle lösen.
Und vor allem sollten privilegierte Menschen, die kein Vereinbarkeitsproblem haben, nicht zum Maßstab aller Dinge werden.
Was du stattdessen tun kannst? Ich habe einige „bodenständige“ Vorschläge für dich:
Sicherstellen, dass nicht nur du für die „kleinen“, weltlichen Dinge wie die Wäscheberge verantwortlich bist.
Gut für dich sorgen. Du hast ein Recht auf Pausen, Feierabende und Wochenenden.
Geduld mitbringen. Lass die anderen doch einfach hustlen und schenk dir etwas, was sich kaum jemand mehr in der Online-Welt schenkt: Zeit.
Dein Tempo gehen. Nein, du musst nicht innerhalb von einem Jahr ein Millionenbusiness aufbauen, sondern kannst auch einen Schritt nach dem anderen gehen.
Darauf achten, dass du nicht ein System unterstützt, das Frauen in die Altersarmut treibt.
Wählerisch bei Mentor*innen sein und sich an Menschen orientieren, die dich nicht zum Dauerhustle überreden wollen, sondern auch deine persönliche, familiäre und finanzielle Situation im Blick haben.
Sich fragen, welche Business-Tipps und -Strategien wirklich zu dir passen. Du musst nicht auf Social Media sein, wenn du nicht willst, und kannst dein Marketing auch nachhaltig mit einem Blog und einer überzeugenden Website gestalten, anstatt in Reels zu tanzen.
Und voll allem: Nett zu sich sein.
Ich bin mir sicher, du gibst jeden Tag dein Bestes.
Quellen:

Themenwünsche?
Wenn dir ein wichtiges Thema im Blog fehlt, sag mir gerne Bescheid. Ich freue ich mich auf deine Nachricht.