Social Media löschen meets Privilegien
In dieser Podcastfolge spreche ich darüber, was ein Social-Media-Ausstieg mit Privilegien zu tun hat und warum Marketingmenschen grundsätzlich mehr über ihre eigenen Privilegien reden sollten.
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Transkript lesen:
Heute möchte ich über Privilegien sprechen. Denn gerade in der Onlinemarketing-Bubble finden wir ja immer wieder dieses Narrativ:
„Ich hab das und das geschafft, und du kannst es auch.“
Und das ist natürlich völliger Quark, denn nur weil eine Person irgendetwas schafft, heißt es noch lange nicht, dass es auch andere Personen schaffen.
Denn jeder Mensch ist anders und kommt mit einem ganz unterschiedlichen Set an Fähigkeiten, Ressourcen und Erfahrungen daher.
Und deshalb können wir nicht davon ausgehen, dass alle Menschen auf der Welt oder von mir aus hier in Deutschland über dieselben Möglichkeiten verfügen wie wir.
Ich würde mir sehr wünschen, dass Marketingmenschen viel häufiger offenlegen würden, welche Privilegien sie haben, sodass Menschen besser einschätzen können, ob ihre Ratschläge überhaupt für sie realistisch sind oder nicht.
Und genau das will ich heute tun.
Ich starte aber erst einmal mit einem Beispiel.
Du kennst vielleicht GaryV, den, ja, Marketing- oder Motivationspapst oder wie auch immer man ihn nennen will.
Und wenn GaryV seine Bücher schreibt oder auf irgendwelchen Bühnen spricht, dann klingt das immer ungefähr so:
Du musst hustlen.
Und jeden Tag alles geben.
Und wenn du am Wochenende nicht arbeitest, dann musst du dich nicht wundern, dass du nicht erfolgreich bist.
Und: No excuses.
Hustle and Grind.
Usw.
Ich muss zugeben, dass ich früher, zu Beginn meiner Selbstständigkeit, selbst GaryV gelesen und seine Botschaften aufgesogen habe wie ein Schwamm, und gleichzeitig hab ich mich bei seinen Reden dann immer furchtbar schlecht gefühlt, denn damals war mein jüngster Sohn vier Jahre alt.
Und ja, auch wenn er kein kleines Baby mehr war, wollte ich dennoch nicht unbedingt am Wochenende arbeiten. Aber laut Gary V. ist das aber eine Ausrede. Tja.
Nun hat GaryV selbst zwei Kinder und da stellt sich natürlich die Frage: Hat er sie vernachlässigt, während er jedes Wochenende durchgearbeitet hat und sich niemals Urlaub genommen hat oder haben sie sich selbst groß gezogen oder was ist da genau passiert?
Und ich will es jetzt nicht besonders spannend machen und vielleicht ahnst du es auch schon, aber in einem Blogartikel hat GaryV mal erzählt, dass all sein Erfolg nicht möglich wäre, wenn seine Frau Lizzie ihm nicht den Rücken freigehalten hätte.
Tja. Da gibt also ein sehr privilegierter Mann anderen Menschen – und darunter eben auch Menschen, die Kinder haben – immer wieder diese Tipps zum Dauerhustle und betitelt alles als Ausrede, während seine Frau seinen Kindern Schulbrote schmiert und mit ihnen zum Zahnarzt geht oder was auch immer da gerade so anfällt.
Natürlich ist es in so einem Fall viel leichter, ein Business aufzubauen und Marketing zu machen, als wenn man eben doch selbst für Kinder verantwortlich wäre. Oder wenn man beispielsweise alleinerziehend wäre oder verwitwet.
Das ist also ein riesengroßes Privileg für Gary, dass er all seine Zeit und Energie in sein Business stecken kann.
Und anstatt das so anzuerkennen und vielleicht auch in seinen Marketinginhalten zu reflektieren, tut GaryV genau das Gegenteil.
Er tut so, als könnte jeder Mensch das leisten, was er leistet.
Und wenn jemand seine Frau in den Kommentaren erwähnt, löscht sein Social-Media-Team anscheinend diese Kommentare.
Und das ist aus meiner Sicht kein großes Vorbild.
Ja, aber Privilegien haben natürlich nicht nur diejenigen, die sich nicht mit Care-Arbeit befassen müssen, es gibt viele weitere Faktoren für Privilegien.
Die Herkunft zum Beispiel kann ein Privileg sein, die Hautfarbe oder die Religion. Es kann sein, dass wir dabei niemals auf Probleme stoßen werden in der Gesellschaft, weil wir zufälligerweise der Mehrheit angehören, es kann aber sein, dass wir aufgrund unserer Herkunft, Hautfarbe oder Religion Diskriminierungserfahrungen machen.
Es kann sein, dass wir aufgrund einer Krankheit oder Behinderung mehr Pausen brauchen oder schlicht mehr Zeit. Oder weil wir Angehörige pflegen oder für unsere Kinder da sind.
Und deshalb können und sollten wir Marketingberater*innen eben nicht davon ausgehen, dass alle Menschen, die wir erreichen, über dieselben Voraussetzungen und Möglichkeiten verfügen.
Und das bringt uns jetzt zu der Frage, was ein Social-Media-Ausstieg mit Privilegien zu tun hat. Und natürlich auch von welcher Position aus ich eigentlich meine Ratschläge gebe.
Und das will ich hiermit ganz offen sagen, damit du besser für dich einschätzen kannst, ob meine Ratschläge auch für dich realistisch sind oder nicht.
Zunächst einmal: Ich bin eine Frau und verheiratet mit einem Mann. Das heißt, ich habe das Glück, dass ich mir nicht sonderlich viele Gedanken über mein Geschlecht und meine Identität machen muss. Das passt im Großen und Ganzen zu den gesellschaftlichen Vorstellungen und erspart mir deshalb natürlich eine Menge Zeit, Energie und Hirnschmalz, die Menschen, die eben nicht zu der Heteronormativität in der Gesellschaft passen, aber aufwenden müssen.
Und natürlich ist es für mich als verheiratete Frau so: Sollte etwas sein, dann ist es für mich nicht existenbedrohend. Es ist natürlich ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass da ein Sicherheitsnetz da ist, wenn man so will. Selbst wenn ich das gar nicht in Anspruch nehme, ist das ein großes Privileg.
Und vielleicht ist es vor diesem Grund auch leichter für mich, mutig zu sein und z.B. meine Social-Media-Kanäle zu löschen, als für jemanden, der oder die dieses Privileg nicht hat.
Ich habe zwei Kinder, was für mich Care-Arbeit bedeutet, aber ich teile mir die Care-Arbeit mit meinem Partner und die Kinder sind auch schon größer, um nicht zu sagen, jugendlich, sodass sie von mir gar nicht mehr so viel Aufmerksamkeit und Betüddelung erwarten. Trotzdem ist es mir immer noch wichtig, Familienzeit zu haben und deshalb eindeutig nicht zu hustlen.
Ich habe einen Migrationshintergrund, würde aber sagen, dass ich hier nicht weiter damit „auffalle“, außer vielleicht mit meinem Nachnamen. Es ist nicht so, dass meine Herkunft mir täglich irgendwelche Benachteiligungen beschert. Aber zusätzliche Emotionsarbeit auf jeden Fall, denn gerade der Krieg in der Ukraine hat eine Menge getriggert und wieder hervorgebracht bei mir.
Ich bin nicht neurotypisch, das heißt, ich finde verschiedene Elemente von Neurodiversität bei mir, und, ja, muss dadurch schon auf mich achten, dass ich genügend Ausgleich zu Reizen bekomme. Und das ist sicherlich einer der Gründe, warum es so eine gute Idee für mich war, Social Media zu verlassen.
Ja, das sind die Privilegien, die ich mitbringe oder eben nicht mitbringe. Es ist, wie du siehst, eine bunte Mischung. Es gibt sicherlich Aspekte, wo ich sagen würde, da habe ich eine zusätzliche Belastung, z.B. durch meine Herkunft oder die Neurodivergenz. Aber im Großen und Ganzen bin ich, verglichen mit anderen Frauen auf der Welt, eine weiße, heterosexuelle Frau, mit einem Partner, der sich selbst als Feminist bezeichnet, und damit eben extrem privilegiert.
Und was bedeutet das jetzt in der Praxis?
Gucken wir uns zum Beispiel mal die Hautfarbe an:
Als weiße Frau habe ich im Alltag nicht mit Rassismus zu kämpfen und in den USA ist es so zum Beispiel so, dass gerade Schwarze Frauen soziale Medien nutzen, um sich zu vernetzen und sich über strukturelle Diskriminierung auszutauschen. Verständlicherweise natürlich.
Laut einer Studie nutzen Frauen öfter soziale Medien als Männer und Schwarze Frauen öfter als weiße Frauen.
Das heißt, es kann jetzt also sein, dass für mich als weiße Frau die Notwendigkeit, soziale Medien zu nutzen, einfach viel geringer ist, als für eine Schwarze Frau.
Da gibt es meines Wissens noch sehr wenig Forschung dazu. Und ja, solange gilt, sich dessen bewusst zu sein, dass es anderen Menschen da anders gehen könnte.
Und natürlich spielt mein Wohnort Deutschland und mein Einkommen eine wichtige Rolle dabei, auf Social Media verzichten zu können. Denn wenn wir uns andere Länder angucken, erweist sich das alles andere als selbstverständlich.
Die Philippinen zum Beispiel, da nutzen 96% der Menschen Facebook, weil es kostenlos ist und in der Regel auf Smartphones vorinstalliert ist. Courtesy of Mark Zuckerberg natürlich.
Und Facebook zu verlassen in einem Land, in dem Facebook so eng mit dem Internet als solchem verknüpft ist, ist natürlich etwas völlig anderes, als das in einem Land zu tun, in dem die Menschen dich zu der Entscheidung beglückwünschen und es feiern, wenn du Facebook verlässt.
Deshalb: Ja, Social Media zu verlassen ist eindeutig ein Privileg. Ein großes Privileg sogar, das viele Menschen auf der Welt aus den verschiedensten Gründen nicht haben gerade.
Dessen bin ich mir bewusst, wenn ich über das Thema SOCIAL MEDIA FREI spreche.
Und gleichzeitig möchte ich dich dazu einladen, zu gucken, was in deinem Rahmen möglich ist, wenn Social Media wirklich ein Problem für dich darstellt. Ich vermute: Vor allem für neurodivergente Personen kann ein Social-Media-Ausstieg enorm zum Wohlbefinden beitragen.
Vielleicht kannst du wegen deiner speziellen Situation nicht alle Kanäle auf einmal löschen, sondern erst einmal nur den einen, der dich am meisten nervt.
Oder vielleicht geht es bei dir langsamer als bei den Menschen, die privilegierter sind.
Doch egal, wie es bei dir aussieht, ich drücke dir ganz fest die Daumen, dass du da deinen eigenen Weg findest.