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Hier dreht sich alles um wertebasiertes Marketing ohne Social Media, Psychotricks und das übliche Marketing-Blabla.
Warum wir dringend über den Gender Care Gap reden müssen
Wir müssen reden! Über den Gender Care Gap in der Selbstständigkeit, weltfremde Tipps von priviligierten Business-Coaches und warum „Dream big“ die meisten selbstständigen Frauen unter Druck setzt, statt sie zu motivieren.
Disclaimer:
Dieser Blogartikel könnte verstörend wirken, wenn du kein feministisches Gedankengut in dir trägst.
Wenn du denkst, dass diese „Gleichberechtigungsk*cke nervt“ und wir „das Ganze“ doch schon längst überwunden haben.
Auch wenn du etwas zart besaitet bist und nicht gerne über – nennen wir sie mal – profane menschliche Dinge liest, solltest du lieber nicht weiterlesen.
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Immer noch da?
Gut.
Dann gehe ich davon aus, dass du nichts dagegen hast, wenn ich das Kind beim Namen nenne.
Das Ding ist nämlich: Ich muss etwas Wichtiges loswerden.
Etwas, das ich eigentlich schon längst hatte aussprechen wollen (sollen, müssen!), aber mich bisher nicht traute.
Etwas, das mir immer saurer aufstößt, je länger ich in dieser Onlinebusiness-Welt unterwegs bin.
Etwas, das mich wurmt, frustriert, traurig und zunehmend auch wütend hinterlässt.
Etwas, das vor allem dann für dich relevant ist, wenn du selbstständig bist und Kinder hast.
Puh. Einmal tief durchatmen. Bist du bereit?
Dann starte ich am Anfang und erzähle alles der Reihe nach …
Teil 1: Dream big …
Beginnen wir mit dem flauschigen Teil, der von Träumen handelt.
Von großen Träumen.
Denn wenn du selbstständig bist und die letzten Jahre nicht gerade unter einem Stein gewohnt hast, kennst du mit Sicherheit das Credo der meisten Business-Coaches und Inspirationszitate da draußen:
Dream big.
Träume groß.
Denke groß.
Setz dir große Ziele.
Shoot for the stars … und wenn es dir nicht gelingt, landest du eben auf dem Mond!
Ich muss zugeben: Ich mag groß denken oft auch. In der Theorie klingt das nämlich alles ganz hervorragend.
Du kannst alles erreichen, was du willst.
Finanzielle Unabhängigkeit.
Freude, Sinn und Erfüllung.
Sechsstelliger oder siebenstelliger Umsatz. (Im Monat!)
Ist das nicht so viel schöner als ein Teilzeitjob im Büro mit blödem Chef und mickriger Rente? Mit Sicherheit!
Damit wäre der Flausch aber auch schon zu Ende und wir kommen zum zweiten (weniger schönen) Teil des Blogartikels: den profanen Dingen. (Ich hatte dich gewarnt!)
Teil 2: … und wer macht die Wäsche?!
Denn die inspirierenden Motivationszitate von Business-Coaches auf Social Media verraten leider nicht, wer die Bude putzt, während du groß träumst.
Wer einkauft, kocht, die Spülmaschine ein- und ausräumt, die Kinderarzttermine wahrnimmt, die Muffins fürs Kuchenbuffet im Kindergarten backt, die Wäsche wäscht, trocknet und einräumt, Staub wedelt, staubsaugt, den Boden wischt, die Fenster putzt, sich nahrhafte Abendessen überlegt und Einkaufszettel schreibt, Kinder bringt und abholt, Bananenbrot für den Sonntagskaffee backt.
Also: Who cares?
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr, sehr groß, dass du das bist.
Dass du groß träumst und dein „Herzensbusiness aufbaust“, während du gleichzeitig auch Hintern abwischst und Wäsche sortierst.
Selbstverwirklichung meets Gender Care Gap
Denn der Gender Care Gap – it’s a thing.
52,4% mehr Care-Arbeit erledigen Frauen gegenüber Männern.
Und wenn du in deinen Dreißigern bist und Kinder hast, sind es ganze 110,6% (!) mehr.
Auch sonntags verbringen Mütter laut DIW vier Stunden mehr mit Care-Arbeit als ihre Partner. Und sogar wenn beide Eltern Vollzeit arbeiten, erledigen Frauen immer noch 41% mehr Care-Arbeit.
Wie viel Zeit bleibt da eigentlich noch für Selbstverwirklichung? Jetzt mal in echt und ohne die rosarote Pinterest-Inspirationszitat-Brille?
Seit mehr als fünf Jahren arbeite ich hauptsächlich mit anderen selbstständigen Frauen (meistens Müttern) zusammen und kann deshalb sagen, dass ein großer Teil dieser Frauen struggelt. Big time.
In der Realität sieht es nämlich so aus, dass selbstständige Mütter oft …
diejenigen sind, die spontan umplanen müssen, weil wieder mal Homeschooling auf dem Plan steht
wichtige berufliche Termine absagen, um sich um ihre kranken Kinder zu kümmern, weil Väter „sich ja nicht einfach so freinehmen“ können
in die Küche umziehen müssen, weil der Mann Homeoffice macht und das Arbeitszimmer nun mal „braucht“
am Wochenende arbeiten, weil das oft die einzige Möglichkeit für sie ist, Dinge nachzuholen, die sie unter der Woche nicht geschafft haben
bis spät in die Nacht arbeiten (oder bis ihnen die Augen zufallen), weil sie tagsüber diejenigen sind, die Kinder vom Kindergarten holen und sie bespaßen
zusätzlich noch den unsichtbaren Teil der Care-Arbeit leisten, der sich „Mental Load“ nennt (also an Dinge denken, im Blick behalten, planen, organisieren)
Unbezahlt. Ungesehen. Unwertgeschätzt.
Als wäre das schon nicht schlimm genug, gibt es erschreckend viele Business- und Social-Media-Coaches da draußen, die diese gesellschaftliche Realitäten ignorieren und die „Du kannst alles schaffen, wenn du nur hart genug arbeitest“-Idee bis zum Äußersten treiben.
Dein Business ist nicht so erfolgreich, wie du gerne hättest?
Dann liegt es mit Sicherheit daran, dass deine Ziele nicht groß genug sind!
Du hast nur wenig Zeit, um dein Business aufzubauen? Dann steh doch einfach noch früher auf (#miraclemorning) oder noch besser: Geh gar nicht erst schlafen! Hast du doch alles selbst in der Hand.
Du bist mit Selbstständigkeit und Kindern hoffnungslos überfordert? Dann verbessere doch dein Zeitmanagement! Trödel halt nicht zu viel. Alles eine Frage der Prioritäten.
Du fühlst dich ausgebrannt und kannst einfach nicht mehr? Komm schon! Wer sein Business liebt, braucht keine Pausen. Und abends erreichst du nun mal die meisten Menschen auf Instagram. #fact
Diese Beispiele habe ich mir nicht etwa ausgedacht (schön wär’s), sondern ist teilweise O-Ton von den Business-Coaches verzweifelter Kund*innen, die ausgebrannt sind und in unseren Gesprächen, bei denen es ja eigentlich um Marketing gehen soll, weinen.
Bin das nur ich oder stinkt da was gewaltig zum Himmel?!
Nicht die Arbeitsmoral der selbstständigen Mütter ist das Problem, sondern Strukturen und Beziehungen, die Unmögliches von ihnen abverlangen.
Dream big – aber back gleichzeitig auch Bananenbrot für die Kita!
Sei die liebende Mutter, die du bist, und immer zur Stelle, wenn die Kinder krank sind – aber poste jeden Tag auf Insta und mach 10 Storys!
Wie soll das bitte schön gehen, wenn der Tag nunmal 24 Stunden hat und man mit seinem Popo nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann?
(Und ich rede hier noch nicht einmal von alleinerziehenden oder verwitweten Menschen, die jeden Pups alleine stemmen müssen. Das Ausmaß ihrer Belastung kann ich als Frau in einer Partnerschaft sicherlich noch nicht einmal erahnen …)
Es sei denn …
Selbstverwirklichung meets Privilegien
… ja, es sei denn, die Business-Coaches, die Mütter zum Dauerhustle animieren, sind überproportional häufig eins: privilegiert.
Männer zum Beispiel, die selbst keine Kinder oder aber eine Frau haben, die ihnen „den Rücken freihält“, während sie ihren „entrepreneurial success“ feiern.
Während Gary also überall seine toxische „Hustle Culture“ verbreitet und von den großen Bühnen dieser Welt „Stop making excuses for not working towards your dreams“ ruft, nimmt ihm seine Frau 100% der Care-Arbeit ab.
Schon praktisch.
Oder eben: verdammt privilegiert.
Denn Gary muss sich nicht mit solch weltlichen Dingen wie Kochen, Schulaufgaben und Kloputzen beschäftigen, während du, wenn du eine Frau bist und Kinder hast, es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Tag für Tag tust.
Nur, dass wir uns nicht falsch verstehen:
Ich sage nicht, dass du dich als Mutter nicht selbstständig machen solltest. Oder aufhören solltest, GaryV zu lesen.
Ich sage vielmehr:
Wenn du mit erfolgreich sein willst, solltest du sicherstellen, dass auch Thomas mal die Reste von der Kloschüssel kratzt. Schließlich kackt er nicht nur Goldglitter und Feenstaub.
Ja, ich schreib das jetzt einfach mal so direkt.
Fette das auch noch gleich dazu.
Und kursiviere es.
Weil manche Dinge einfach mal in fett und kursiv geschrieben werden müssen.
Und glaube mir, ich würde das Ganze auch noch mit leuchtenden Pfeilen hinterlegen, wenn ich könnte.
Doch es gibt noch mehr:
Jede vierte Frau wird – unabhängig von ihrer sozialen Schicht – mindestens einmal im Leben Opfer von Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner.
Ich vermute: Das Thema gerechte Aufteilung der Care-Arbeit steht bei diesen Frauen nicht unbedingt weit oben auf der Prioritätenliste, sondern eher … ungeschlagen durch den Tag kommen oder … überleben?!
Oder ist häusliche Gewalt auch bloß eine von diesen Entschuldigungen, Gary?
Noch einmal:
Selbstständige Frauen und Mütter brauchen nicht noch mehr Motivationssprüche und Hustle-Tipps von Männern, die die gesamte Care-Arbeit sowieso an ihre Frau abwälzen, sondern Gleichberechtigung. Und gesellschaftliche Strukturen, die Gleichberechtigung forcieren.
Das Mindeste ist aber, dass wir Frauen unsere Ohren auf Durchzug schalten dürfen (müssen!), wenn privilegierte Business-Coaches, die partout gesellschaftliche Realitäten ignorieren, uns irgendwelche weltfremden Tipps an den Kopf werfen.
Selbstverwirklichung meets Ausbeutung
Aber halt, es gibt doch noch einen Ausweg.
Einen total genialen.
Einen, der wirklich funktioniert.
Zumindest sagen es viele erfolgreiche Frauen, wenn man sie fragt, wie sie ihr Business und den Haushalt vereinbaren: eine „Putzfee“!
Klingt doch super: Warum sich mit dem Göttergatten über das dreckige Klo streiten oder Abstriche beim Business machen, wenn du die lästigen Haushaltspflichten auch einfach auslagern kannst?!
Vereinbarkeit? Check!
So einfach ist es leider nicht.
Vielleicht können privilegierte weiße Frauen ihr individuelles Vereinbarkeitsproblem lösen, indem sie sich mehrmals die Woche Reinigungskraft, Babysitter und Nachhilfe leisten, aber für die meisten Frauen dieser Welt ist es eben keine realistische Lösung. Da können sie noch so oft Geld manifestieren oder positiv denken.
Außerdem hat diese „Lösung“ einen hohen Preis. Denn in den meisten Fällen werden haushaltsnahe Dienstleistungen wie die Reinigung der Wohnung an andere Frauen ausgelagert. Und zwar an ökonomisch schwächere.
Mit intersektionalem Feminismus (also dem Ansatz, der neben Geschlecht auch Faktoren wie sozialen Status, Herkunft, Nationalität, sexuelle Orientierung etc. berücksichtigt) hat die „Putzfee“-Lösung also nichts zu tun.
Im Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit, dass man damit ein System unterstützt, das Frauen in die Altersarmut treibt, ist groß. Sehr groß. So genannter Schwarzarbeit und Minijob sei Dank.
Dream big … with a twist!
Also doch nichts mit Selbstständigkeit, großen Zielen und Welt verändern und so?
Klar kannst du „groß träumen“, wenn du willst.
Nur können wir uns Gleichberechtigung nicht einfach schönträumen. Oder mit Inspirationszitaten und Aufrufen zum Dauerhustle lösen.
Und vor allem sollten privilegierte Menschen, die kein Vereinbarkeitsproblem haben, nicht zum Maßstab aller Dinge werden.
Was du stattdessen tun kannst? Ich habe einige „bodenständige“ Vorschläge für dich:
Sicherstellen, dass nicht nur du für die „kleinen“, weltlichen Dinge wie die Wäscheberge verantwortlich bist.
Gut für dich sorgen. Du hast ein Recht auf Pausen, Feierabende und Wochenenden.
Geduld mitbringen. Lass die anderen doch einfach hustlen und schenk dir etwas, was sich kaum jemand mehr in der Online-Welt schenkt: Zeit.
Dein Tempo gehen. Nein, du musst nicht innerhalb von einem Jahr ein Millionenbusiness aufbauen, sondern kannst auch einen Schritt nach dem anderen gehen.
Darauf achten, dass du nicht ein System unterstützt, das Frauen in die Altersarmut treibt.
Wählerisch bei Mentor*innen sein und sich an Menschen orientieren, die dich nicht zum Dauerhustle überreden wollen, sondern auch deine persönliche, familiäre und finanzielle Situation im Blick haben.
Sich fragen, welche Business-Tipps und -Strategien wirklich zu dir passen. Du musst nicht auf Social Media sein, wenn du nicht willst, und kannst dein Marketing auch nachhaltig mit einem Blog und einer überzeugenden Website gestalten, anstatt in Reels zu tanzen.
Und voll allem: Nett zu sich sein.
Ich bin mir sicher, du gibst jeden Tag dein Bestes.
Quellen:

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